Interview: General Choi Hong Hi

interview Choi Hong Hi

Die gestohlene Kampfkunst

Es gibt kaum einen Pionier im Kampfsport, der so umstritten ist wie General Choi Hong Hi. Der Koreaner entwickelte die moderne Kampfkunst Taekwondo und führt heute die „International Taekwondo Federation,“ ITF an. Jedes Interview, das in den letzten Jahren mit ihm veröffentlicht wurde, versprach viel, geriet jedoch zu Reinfällen. Zum ersten Mal stellte unser Mitarbeiter Robert Ferguson dem Vater des modernen Taekwondo unausweichlich harte und sehr wichtige Fragen, die sich bislang noch nie ein Journalist zu fragen getraute, bzw. auf die noch nie jemand eine Antwort erhalten hat. Dieses aufschlußreiche und informative Interview wird viele veranlassen, ernsthaft über das Taekwondo nachzudenken.

Choi Hong Hi
General Choi trainiert mit Senior-Intruktoren des US-Verbandes. Er demonstriert stets in Straßenkleidung. Umziehen ist ihm zu unständlich.

KICK: Robert Wheatley und Chuck Sereff, Repräsentanten des Amerikanischen Taekwondo-Verbandes haben dieses Interview ermöglicht. Was halten sie von ihnen?

Beide sind sehr nett. Sereff hält den achten Dan, der erste Nicht-Koreaner, der eine so hohe Graduierung erhalten hat. Er hat seit 1967 seine Loyalität mir und der ITF gegenüber unter Beweis gestellt. Er ist wie ein Sohn für mich und ich vertraue ihm. Die Amerikaner können froh sein, einen so tollen Instruktor zu haben.

KICK: Man sagt, sie hätte den Namen und das System Taekwondo erfunden. Stimmt das?

Natürlich! Ich habe diesen Namen am 11. April 1955 entwickelt.

KICK: Wie lange haben Sie an der Zusammenstellung des neuen Systems und den Prinzipien des Taekwondo gefeilt?

Im März 1946 habe ich meine Forschung begonnen, Tag und Nacht über 9 Jahre daran gearbeitet. Bis Ende 1954 war die Entwicklung fertiggestellt. 1955 gab ich dem System den Namen „Tae Kwon Do.“ Der Name basiert auf Kraft, Forschung, Mathematik und Philosophie. Für das Kämpfen habe ich Militär-Techniken eingefügt.

KICK: Ist es richtig, daß sie General der Koreanischen Armee waren?

Ich war ein Zwei-Sterne-General. Ich bin eines der Gründungsmitglieder der koreanischen Streitkräfte, die am 15. Januar 1946 errichtet wurden. Ich war damals der Leiter der Sprachschule des Militärs.

Die WTF macht gar kein Taekwondo. Was die machen ist nichts anderes als Karate. Sie haben die Bezeichnung Taekwondo gestohlen.

KICK: Zählen im Taekwondo Kicks mehr als Handtechniken?

Insgesamt gibt es 3.200 Techniken und Abläufe im System. Man soll damit in allen Lagen gewappnet sein, sich zu verteidigen.

Chuck Sereff
General Choi übergibt Chuck Sereff eine Auszeichnung für seine langjährige Loyalität.

KICK: Auch auf dem Boden?

Aber sicher, überall. Es gibt 2.000 Handtechniken und über 1.200 Fußtechniken, die ich erfunden habe. Wenn man alle beherrscht, kann man sich jederzeit gegen jeden Gegner zur Wehr setzen. Die Philosophie bedeutet, daß ein einziger Treffer einen Kampf entscheidet. Taekwondo-Sportler müssen Kraft haben und sich kraftvoll verteidigen. Daher muß man lernen, wie man Kraft erzeugt und damit umgeht.

Buchtip: Taekwon-do von Choi Hong Hi auf Amazon

KICK: Zur Zeit sieht man Taekwondo eher als eine Sportdisziplin als eine Kunst der Selbstverteidigung. Mit all diesen unterschiedlichen Organisationen kennen die meisten Sportler sie Gen. Choi wahrscheinlich gar nicht.

Die WTF macht gar kein Tae-kwondo. Was die machen, ist nichts anderes als Karate. Sie haben sich die Bezeichnung Taekwondo gestohlen – auf politischem Wege.

KICK: Sie behaupten, die WTF hat das Taekwondo gestohlen?

Aber sicher. Wenn sie es als Taekwondo bezeichnen wollen, dann müssen sie genau das tun, was ich vorgegeben habe. Jigoro Kano hat einst Techniken entwickelt, die wir heute als Judo kennen. Es ist bis heute dasselbe. Im Taekwondo sollte das keinen Unterschied machen. Wenn die WTF schon den Namen benutzt, dann sollen sie auch das machen, was der Begründer General Choi vorschreibt. Aber sie mißbrauchen es durch politische Macht. Es ist also kein Taekwondo. Sie betreiben nur Karate. Die WTF ist von Grund auf eine Karate-Organisation.

Die Philosophie bedeutet, daß ein einziger Treffer einen Kampf entscheidet. Taekwondo-Sportler müssen Kraft haben und sich kraftvoll verteidigen.

KICK: Sie haben doch versucht, mit der WTF zusammen zu arbeiten?

Ja, aber nur weil es meine Pflicht war. Ich habe versucht sie (ITF und WTF) zusammenzubringen. Ich war bereit, zurückzustecken, aber sie wollten es nicht annehmen. Sie haben wohlklingend Taekwondo angepriesen mit ihrer politischen Macht und enormer materieller Unterstützung bestochen.

KICK: Wann haben sie die ITF ins Leben gerufen?

Ich habe den Verband am 22. März 1966 in Seoul, Korea errichtet.

Es gibt über 14 Millionen Taekwondo-Schüler weltweit, die die Techniken so trainieren, wie ich sie entwickelt habe. Alle machen es gleich, in 113 Nationen.

KICK: Kann jeder bei ihnen Mitglied werden?

Natürlich, unsere Tore stehen offen. Kung Fu und Karate-Sportler kommen ständig hinzu. WTF-Mitglieder kommen ebenfalls zu uns. Es gibt über 14 Million Taekwondo-Schüler, weltweit, welche die Techniken so trainieren, wie ich sie entwickelt habe. Alle machen es gleich, in 113 Nationen. Jeder Anführer eines Landes ist wie ein Sohn für mich.

KICK: Viele der bekannten Taekwondo-Meister waren ihre Schüler, z.B. Jhoon Rhee. Ist das korrekt?

Ja, klar. Leider wurden viele politisch beeinflußt, so daß sie meinen Verband verlassen mußten. Heute versuchen sie, zurückzukehren.

Hochblock
General Choi trainiert mit Senior-Intruktoren des US-Verbandes. Er demonstriert den wahren Sinn von Blocktechniken.

 

KICK: Welche Qualitäten müssen Taekwondo-Meister besitzen um gute Lehrer zu sein?

Taekwondo ist eine hochentwickelte Kampfkunst, nicht nur Sport. Wenn ich von Kampfkunst rede, dann meine ich damit die mentale Disziplin und den moralischen Charakter, der die Techniken exakt begleiten muß. Das ist Kampfkunst. Daher braucht man hochqualifizierte Meister und Lehrer. Beim normalen Sport braucht man nicht unbedingt einen Lehrer, da es keine Moral gibt, die man nur mit einem Lehrer erlernen könnte. Es ist sehr schwierig, einen guten Lehrer zu finden, denn er muß beide Seiten, die Technik und den Geist, vermitteln. Ein guter Lehrer ist zugleich Dozent und Soldat.

KICK: Stellt die östliche Lebensphilosophie ein wichtiges Element für das Training einer Kampfkunst dar?

Aber natürlich. Es besteht ein enger Zusammenhang, obgleich es für Menschen aus dem Westen nur schwer nachzuvollziehen ist. Dennoch kennen viele meiner engen Schüler den Zusammenhang der Moral sehr gut. Wenn wir das beherrschen, können wir davon ausgehen, das wir jeden Kampf mit einem einzigen Schlag beenden können. Sie sehen, man kann Disziplin und Moral nicht deutlich genug hervorheben um auf sie hinzuweisen.

United States Taekwondo Federation

KICK: Vor wenigen Jahren waren die Martial Arts nur Erwachsenen vorbehalten. Heute trainieren mehr Kinder als Erwachsene. Was halten sie für das ideale Einstiegsalter?

Sieben oder acht Jahre ist ideal.

KICK: Sollten Taekwondo-Intruktoren auch Anatomie- und Ernährungsunterricht erteilen?

Ich hoffe doch. Das ist eine Sache, die ich hervorhebe, sogar in meinen Seminaren. Man muß Anatomie studieren, um seinen Körper besser zu verstehen und die Techniken so anwenden zu können, daß man mit nur einem Treffer siegen kann. Das ist der Sinn.

KICK: Wenn sie unterrichten: wieviele Stunden dauert ihr Seminar?

Ca. 6 Stunden pro Einheit.

KICK: Trainieren sie selbst jeden Tag?

Seit 1983, jeden Tag morgens eine Stunde. Bis heute lasse ich keinen Tag aus.

KICK: Trainieren sie am Makiwara?

Früher mal, heute schlage ich gegen die Wand! (Lachen)

interviewe Robert Ferguson
General Choi beim Interview mit unserem Mitarbeiter Robert Ferguson.

KICK: Würden Sie auch WTF-Mitglieder unterrichten?

Aber sicher. Sie haben überhaupt keine Technik, nicht im Geringsten. Ein paar Kicks vielleicht, das ist alles.

KICK: Sie zeigen bei den Formen auf, das man konstant atmen soll. Warum konzentrieren sie sich so auf die Atmung?

Nicht nur bei den Formen ist die Atmung wichtig. Jede Bewegung benötigt einen Atemzug. Menschen müssen atmen, sonst sterben sie. Wir zeigen, wie man richtig atmet.

KICK: In der WTF betont man die Atmung aber nicht so stark wie bei ihnen.

Die haben ohnehin keine Technik, sie haben also auch nichts zu lehren. Darum müssen sie sparren und kicken. Sie gebrauchen nur ihre Hände und Füße. Da gibt es keine Technik und auch keine Kraft.

KICK: Das heißt, die WTF zeigt nicht die gleichen Techniken wie sie in der ITF?

Nein, nein, nein! Sie machen Karate. Karate ist gleich WTF. Es ist dasselbe, nur nennen sie es Taekwondo.

KICK: Ärgert es sie nicht, daß sie nicht das Taekwondo lehren, das sie erfunden haben?

Ja, ungemein.

KICK: Haben sie selbst die alte Kunst des Taek Kyon erlernt?

Taek Kyon hat keine Bewegung. Es ist ein schlichtes Hilfsmittel für rudimentäre Übungen. Sie dachten früher das Taekwondo und Karate wären verbunden, aber sie sind es nicht. Wenn ich Karate nicht gekannt hätte, hätte ich nichts besseres erfinden können. Da ich es jedoch kannte, war es leicht etwas besseres zu entwickeln.

KICK: Bedeutet Taekwondo wörtlich übersetzt „Fuß-Hand-Philosophie“?

„TAE“ bedeutet „fliegender Fuß,“ „springen,“ „Kicken,“ „blocken“ oder „ausweichen.“ „KWON“ kommt von „Hand“ oder „Faust.“ Jedermann kann. … „Do“ heißt „Kunst,“ „Weg,“ oder „gepflasterter Weg.“ Es bedeutet, daß Menschen reisen müssen, um ans Ziel zu kommen. Taekwondo beinhaltet mentales Training und Techniken für den unbewaffneten Kampf mit vielen Tricks. Das ist Taekwondo.

KICK: Gibt es Bodenkampftechniken wie z.B. beim Judo?

Aber sicher. Darum habe ich 3.200 Bewegungen und Techniken erfunden, um sowohl im Stehen als auch im Liegen in der Lage zu sein, sich zu verteidigen.

KICK: Kannten sie den Erfinder des modernen Karate und Shotokan, Gichin Funakoshi, persönlich?

Ja. Ich habe ihn 1942 in Japan besucht. Ich hatte die Gelegenheit (als ich in Japan lebte) Karate zu lernen. Ich konnte es sehr gut, hielt den zweiten Dan.

KICK: Werden sie jemals nach Südkorea zurückkehren?

Natürlich werde ich das eines Tages. Die Leute fragen mich ständig nach meiner Heimat. Ich sage ihnen, ich lebe in der Luft. Ich erkläre ihnen, daß ich an zwei Orten wohne, der eine ist auf dem Boden, der andere in der Luft. Seit 1972 verbringe ich jedes Jahr rund 700 Stunden in irgendwelchen Flugzeugen. So kommt es, daß ich sage, ich lebe in der Luft. Wo immer ich hingehe, um Seminare zu geben, am nächsten Tag sitze ich wieder in der Maschine.

KICK: Wollen sie, daß die Welt etwas ganz Spezielles über sie erfährt?

Mein Leben ist faszinierend, aber unglücklicherweise bin ich immer tausende von Meilen von meiner Heimat entfernt. Nur wenige werden mich für mein Leben beneiden. Wie auch immer, ich bin der glücklichste Mensch auf dieser Welt. Ich weiß, wohin ich auch gehe, meine Techniken werden sich immer weiter verbreiten.
Ich zeige meinen Schwarzgurten, wie sie die Techniken weitertragen sollen.
Seit 35 Jahren schreibe ich an einem Buch, das 15 Bände umfaßt mit 30.000 Fotos. Alleine 12 Jahre habe ich gebraucht um alles per Hand niederzuschreiben.

KICK: Wie sehen sie die Zukunft für das Taekwondo im 21sten Jahrhundert?

Meine Traumvorstellung geht soweit, daß Taekwondo über die ganze Welt verbreitet wird, unabhängig von Religionen, Rassen, Nationalitäten, Ideologien, Grenzen – und daß ich es bin, der das schafft. Heute ist die Welt für mich sehr klein geworden. Meine Hoffnung ist, daß es eines Tages auch auf dem Mond und anderen Sternen verbreitet wird. Ich werde alt, so werde ich es nicht mehr schaffen, aber meine Söhne und Töchter werden diesen Traum im 21sten Jahrhundert Verwirklichen.

Robert Ferguson and General Choi

 

Ein hartes Interview:
Ein Kommentar von John Corcoran

Es gibt keinen Zweifel: Obwohl seine Gegner es nie eingestehen werden, General Choi Hong Hi ist tatsächlich der „Vater des Tae Kwon Do.“ In den Gründerjahren hat er enorm viel für die Verbreitung der Disziplin geleistet und ist damit vergleichbar mit Gichin Funakoshi, dem „Vater des modernen Karate.“ Mit dem Zusatz „Do“ bereicherte Choi den Stil um eine philosophische Dimension. Durch das genaue Katalogisieren aller Techniken in seinen ersten Büchern hat er für die Techniken des Taekwondo eine umfangreiche Basis geschaffen. In aller Welt rekrutierte er seit Ende der sechziger Jahre zahlreiche Schwarzgurte. Wenn wir heute eine Rangliste mit den 10 wichtigsten und einflußreichsten Kampfkunst-Pionieren aufstellen würden, müßte Gen. Choi mit Sicherheit in dieser Liste stehen.
Auf der anderen Seite zählt Choi zu den kontroversesten Figuren der Martial-Arts-Szene. Seine „International Taekwondo Federation“ (ITF), welche er selbst ins Leben gerufen hat, führt mit der „World Taekwondo Federation“ (WTF), die unter Leitung von Dr. Un Yong Kim zur olympischen Disziplin avancierte, eine ewige Auseinandersetzung. Als die Regierung die WTF anerkannte, vollzog Gen. Choi 1973 den umstrittensten Zug seiner Karriere: Er verbündete seine ITF mit dem kommunistischen Norden Koreas, dem Todfeind von Südkorea. Danach wanderte Choi nach Montreal aus, wo er 1974 das Hauptquartier der ITF errichtete. Darüber hinaus wurde seine Verbindung mit der Koreanischen Taekwondo Association, dem offiziellen Verband Südkoreas, aufgelöst. Aufgrund bestimmter politischer Umstände kursierten Gerüchte, daß General Choi Landesverrat begangen habe und schließlich aus seinem Heimatland geflohen sei, nachdem man sein Leben bedroht hatte.
Zweifellos stellt Gen. Choi Hong Hi eine intrigante Mischung aus Pionier und Politiker dar, er ist gleichzeitig Leitbild und Ausgestoßener. Alle Interviews, die bislang mit ihm geführt wurden, gerieten zur Farce. Zum einen durch amateurhafte Journalisten, zum anderen durch die geschickte Inszenierung des Generals.

Buchtip: Taekwon-Do: The Art of Self-Defence bei Amazon

Unser Mitarbeiter Robert Ferguson, freiberuflicher Journalist und Gründer der „International Combat Taekwondo Federation“ nahm, sechs Jahre nachdem er die ersten Schriftstücke von Gen. Choi sah, die Gelegeheit beim Schopf, ihn als einziger amerikanischer Journalist während seines US-Seminars in Santa Barbara, Kalifornien, zu interviewen. Er befragte den Exil-Koreaner gleichermaßen aus dem Blickwinkel eines Journalisten wie als erfahrener Kampfsportler. „Ich habe ihn nach vielen Dingen gefragt, die andere Kampfsportler wissen wollten,“ erläutert Ferguson, „und ich war in der Lage seine intimen Vorstellungen von Ideologie und seine weitgestreuten Konzepte und Prinzipien auszuloten.“
Für mich als langjährigen Kampfsportjournalisten ist das Interview von Ferguson ein richtiger „Home Run.“

John Corcoran, USA

 

Christine Bannon Rodriguez
Kick 1996/06

 

Dieses Interview wurde vom Mitarbeiter Robert Ferguson in den Vereinigten Staaten von Amerika geführt und von John Corcoran bearbeitet. Es erschien in Kick Ausgabe 06/96, welche im Mai 1996 in den Handel gelangte. Diese Seite dient lediglich als Archiv.