Stellen sie sich vor, sie warden an einem Vollkontaktturnier teilnehmen. Sie schauen sich den Vorkampf an, aus dem der Gegner für ihren kommenden Fight ermittelt wird. Sie wollen seinen Kampfstil analysieren, um ihm später besser zu entgegnen. Nach wenigen Sekunden kracht es jedoch und ihr nächster Gegner steht fest. Er hat einen klassischen KO-Sieg mit einem Halbkreiskick zum Kopf erzielt – und das, obwohl sein unterlegener Kontrahent die Deckung vor dem Gesicht hatte. Kein besonders gutes Omen.
Aus diesem besorgten Blickwinkel haben Mitte bis Ende der siebziger Jahre so manche Vollkontaktkampfer die spektakularen KO-Techniken des Darmstadter Ausnahmekampfers Peter Harbrecht gesehen. Von seinen knapp 3O Kampfen verlor er keinen einzigen, die meisten Siege kamen durch KO. Lediglich ein einziges Unentschieden bildet einen kleinen Schandfleck in diesem sonst makellosen Rekord. Harbrecht feierte seine Erfolge im Kickboxen, das man damals noch „Vollkontakt-Karate“ nannte, von 1977 bis 1979. In diesen drei Jahren war er die dominante Figur in der Szene, gerade mal der US-Amerikaner Daryll Tyler konnte ihm das Wasser reichen, bis er sich entschloß seiner beruflichen Karriere den Vorzug zu geben und mit dem Leistungssport aufzuhören.
Viele KO-Siege: Das Einzigartige an Harbrecht war sein kompromißloser und dennoch technisch brillianter Kampfstil, gepaart mit einer ungeheuren Schlagkraft in Händen und Füßen, harten Kombinationen und einem eisernen Willen. Mit großer Disziplin schaffte er es, in den drei Jahren seiner Laufbahn alles zu erreichen, was man im „Fullcontact“ erreichen. konnte. Er gewann mehrere deutsche Meistertitel, drei Europameisterschaften und errang den Titel des Weltmeisters bei den ersten Weltmeisterschaften der WAKO, 1978 in Berlin. Mit seinen Kämpfen sorgte der deutsche Mittelgewichtler in den Gründerjahren des jungen Sports in Europa für große Furore. Es gibt wohl kaum jemanden aus der alten Zeit, der sich nicht deutlich an seine imposanten Erfolge erinnern könnte.
Anfang im Shotokan Karate: Vor genau 20 Jahren kam Peter Harbrecht zum ersten Mal mit dem Kampfsport in Berührung. Sein Bruder Hans nahm den heute 36-jährigen mit zum traditionellen Karatetraining im Shotokan. Den aus gutbürgerlicher Familie stammenden Kfz-Schlosserlehrling faszinierte das Training ungemein, insbesondere daß er lernte, mit seinem Körper flexibler umzugehen. Hinzukam, daß er durch seine Bewunderung für Bruce Lee und seine Filme schon länger ein Faible für die fernöstlichen Kampfsportarten hatte. Innerhalb des Darmstädter Vereins Budo Do Tameshi feierte Harbrecht seine ersten Erfolge im Karate. Er wurde Hessischer Juniorenmeister und belegte mit der Mannschaft seines Vereins den dritten Rang bei den deutschen Teamwettbewerben.
Training in Mandts Talentschmiede: Als 1975 und 1976 zum ersten Mal das Semikontakt aufkam, begann er zusammen mit seinem Bruder in dieser Disziplin zu trainieren. Sein Bruder Hans pflegte zu dieser Zeit engen Kontakt mit dem zeitweise in Deutschland lebenden Amerikaner Mike Anderson, dem Mann, der die immer bekannter werdende Vorform des Kickboxens, das Sportkarate, praktisch erfunden hatte. Anderson trainierte früher für einige Zeit in Mannheim in der Sportschule von Jürgen Mandt die in Fachkreisen immer bekannter wurde und zusammen mit der Berliner Sportschule des europäischen Kickboxpioniers Georg F. Brückner die deutsche Spitzenklasse bildete. Das Training in der Mannheimer Talentschmiede, aus der später mit Klaus Friedhaber und Ferdinand Mack zwei weitere Ausnahmesportler hervorgingen, fruchtete, und die ersten Wettkämpfe in Semikontakt endeten mit großen Erfolgen, die hessische Landesmeisterschaft und die Deutsche Meisterschaften bei den Junioren wurden gewonnen.
Schiebung im Semikontakt: Nach einer äusserst umstrittenen Niederlage im Semikontakt gegen den alten belgischen Haudegen Geert Lemmens – aus einer 7:0-Führung wurde eine 7:8-Niederlage – kam der Wechsel zum neuen Vollkontakt. Hier konnte man sein Können zeigen, ohne daß die Launen der Punktrichter so großen Einfluß auf das Resultat hatten.
„So ein Scheiß – nie wieder!“ Wenn man ihn heute auf seinen ersten Vollkontakt-Kampf anspricht dann kann er sich noch lebhaft darin erinnern: „Natürlich erinnere ich mich an meinen ersten Kampf. Ich gewann nach Punkten und war völlig außer Puste. Als ich die Kampffläche verließ, zog ich meine Handschuhe aus, warf sie wild in die Ecke“. Und weiter „So einen Scheiß (wie Vollkontakt) mach ich nie wieder!“ versprach er sich, er blieb dennoch dabei. Sein erstes Turnier in Wolfsburg endete, wie nicht anders erwartet mit dem ersten Platz und der Aussicht auf den ersten DM-Titel.
Erster EM-Titel: Noch im selben Jahr nahm er am letzten von zwei Ranglistenturnieren zur Europameisterschaft in Wien teil. Im ersten Kampf bekam er es mit dem führenden Holländer Effrink zu tun. Es wurde ein sehr kurzer Kampf. Harbrecht hatte den Holländer bereits nach wenigen Sekunden mit einem Bilderbuchkick an der Kinnspitze erwischt und ihn schwer KO geschlagen. Im Endkampf traf er auf einen weiteren Holländer (pro Nation waren je zwei Kämpfer zugelassen). Der tapfer kämpfende Aalstede hatte jedoch keine Chance, der großen technischen Überlegenheit des Deutschen Paroli zu bieten.
KO-Sieg in 6 Sekunden 1978 wiederholte Harbrecht in Wolfsburg seinen EM-Erfolg. Und nicht nur das: Seinen ersten Gegner, den Schweden Bo Lind, streckte er bereits nach sechs Sekunden mit einem donnernden Halbkreiskick zum Kopf nieder, und erzielte damit den schnellsten KO-Sieg in der Geschichte des Kickboxens.
Weltmeisterschaft vor 8.000 Zuschauern Der fünfte November 1978 markierte die Stunde seines größten Erfolges. Unter Teilnahme von 16 Nationen veranstaltete die WAKO in der Berliner Deutschlandhalle die ersten Weltmeisterschaften im Vollkontakt, Harbrecht kämpfte sich souverän durch die Vorrunde und besiegte im Finale den Amerikaner Harold Roth deutlich. Lediglich dessen Schauspielkünste konnten, er klagte ständig über einen locker sitzenden Fußschutz und nutze so die Leichtgläubigkeit des holländischen Kampfrichters aus, Roth vor einer KO-Niederlage gegen Ende der zweiten Runde bewahren.
Abschiedskampf Bereits ein Jahr später, nach dem Gewinn einer weiteren Europameisterschaft (Mailand), bestritt Harbrecht in seiner Heimatstadt den letzten Kampf seiner Karriere. Trotz einer Handfraktur, die er sich in einem Vorkampf zugezogen hatte, bestritt und gewann er seinen Finalkampf und beendete damit seine Karriere ohne jegliche Niederlage. „Ich hatte einfach alles erreicht, was wollte ich mehr“, erinnert er sich heute an seinen Entschluß ohne Reue. Für Profikämpfe lagen ihm zwar einige Angebote vor – während seiner WAKO-Zeit mußte er aus verbandspolitischer Rücksichtnahme schon mal einen Profikampf in Jugoslawien ausfallen lassen – jedoch gab es keine finanziellen Sicherheiten für eine solche Karriere. Die Anfragen amerikanischer Veranstalter, die ihn u.a. mit Bill „Superfoot“ Wallace in einen Ring stellen wollten, waren deshalb nicht verlockend genug, um mal schnell in die USA zu fliegen und sich nach Kämpfen umzuschauen. In Deutschland gab es zu dieser Zeit ohnehin keine Berufskämpfe im Vollkontakt-Kickboxen, so daß eine Karriere auf heimischem Boden so oder so schlichtweg undenkbar war.
Management bei Mercedes Benz: Von nun an konzentrierte sich Harbrecht auf seine berufliche Karriere, begann nach seiner Bundeswehrzeit eine zweite Ausbildung. Bei Mercedes Benz erlernte er zunächst den Beruf des Kfz-Schlossers, später sattelte er zum Industriekaufmann um. Er blieb in derselben Firma, wo er es inzwischen zum Leiter der kaufmännischen Verwaltung in der Frankfurter Niederlassung gebracht hat. Vorbild Muhamad Ali: Aus heutiger Sicht ist es interessant zu erfahren, welche Vorbilder man Mitte der siebziger Jahre hatte. Die Größen der amerikanischen Sport-Karatewelt wie Bill Wallace, Joe Lewis und Benny Urquidez besaßen für Harbrecht keinen großen Reiz. Dafür aber der Schwergewichtsweltmeister in Profiboxen, Muhamad Ali alias Cassius Clay. „Seine lockere Kampfesweise mit explosiven Kombinationen haben meinen Kampfstil geprägt“, gesteht er heute bei einem Presseinterview ein. Nicht umsonst blieb er auch bei seinen Kämpfen im Amateurboxen, die er zwischen seinen Vollkontaktkämpfen bestritt, unbesiegt
Und heute? (Erscheinungdatum 1994): Obwohl er sich inzwischen gesundheitsbedingt völlig von seinem alten Sport gelöst hat sieht man ihn schon das eine oder andere Mal bei großen Kickboxgalas als Ehrengast – gerne sieht er sich Fernsehübertragungen seiner Sportart an. Zuviele Verbandsquerelen: Seinen Nebenjob als Trainer in einer Darmstädter Sportschule hat er bereits vor einigen Jahren aufgegeben, ihm wurden die Streitigkeiten der Vereine und Verbände zuviel. In seiner Freizeit wechselte er zu erheblich gefährlicheren Sportarten wie Tennis und Fußball. Anders als beim Vollkontakt, aus dem er ohne nennenswerte Verletzungen hervorging, zog er sich hier schwere Knie- und Beinverletzungen zu. Im Vorjahr erlitt er sogar einen Bandscheibenvorfall, der ihn gesundheitlich stark traf.
Neuer Stil: Heute hat er sich wieder erholt trainiert in einem Fitneßstudio an Sandsack und Bodybuilding-Geräten. Er trägt sich mit dem Gedanken, einen völlig neuen Stil wie zB. das Kung Fu zu erlernen. Aber auch ans Kickboxen denkt er noch. Am liebsten würde er wieder in einem Verein als Trainer für Kinder und Jugendliche arbeiten.
Fotos: Archiv P. Harbrecht, Kicksider Archiv.
Anmerkung: Peter Harbrecht betreibt auch im Ruhestand weiterhin Kampfsport: Krav Maga. Er lebt mit seiner Familie in Salzburg, wo er zuletzt für Mercedes Benz im Vortand tätig war. Er nimmt regelmäßig an jährlich stattfidenden Veteranentreffen der ehemaligen WAKO Welt- und Europameister teil.