Er erntet viel Lob für seine einzigartige Fähigkeit, das Kampfsystem des Wing Chun zu lehren. Für den in Hong Kong ansässigen Wong Shun Leung sprechen die Stimmen der internationalen Fachpresse. Das britische Fighters bezeichnete ihn als „… einen ausgezeichneten Werbeträger und Lehrer des Wing Chun“. Jesse Glover, der erste Schüler des späten Bruce Lee, erhob ihn in seinem Buch „Bruce Lee’s Non-Classical Gung Fu“ zu einem der besten Kampfsportlehrer überhaupt Der Chefredakteur des englischen Combat Magazines schrieb sogar ‚Wong ist ein sehr wichtiger Meister des Wing Chun. Nicht nur, daß er einst Bruce Lee lehrte, nein, er verdient Besseres als ständig im Schatten anderer zu stehen.“ Auch das amerikanische Blackbelt Magazin ist voll des Lobes: „Er ist einfach ein Wing Chun Phänomän.“
Da stört auch das Wettern des William-Cheung-Bezwingers Emin Botztepe nicht, der den Bruce-Lee-Meister in einem amerikanischen Magazin als „ … die Nummer eins unter den Streitverursachern unter den Kung Fu Stilen …“ tituliert hat. Aus welcher Perspektive man auch immer die Stimmen beurteilen will, man kommt nicht drumherum, Wong Shun Leung als die größte noch lebende Persönlichkeit in der Welt der dynamischen chinesischen Kampfkunst des Wing Chun anzuerkennen. Er war der Mann, der den Stil in den späten Fünfzigern und den frühen Sechzigern mit seinen provokanten Herausforderungen gegenüber Vertretern anderer Kampfstile ins Rampenlicht brachte. Er war es auch, der den Revolutionär der Martial Arts, Bruce Lee, lehrte und somit die Entwicklung dessen eigenen Kampfstiles, dem Jeet Kune Do, beeinflußte. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist vor allem seine Haltung gegenüber den Schülern. Er bezeichnet sich nur als einen Lehrer, ein einfacher Sifu also. Er hält nichts davon, sich als Meister oder gar als Großmeister darzustellen. Für ihn ist diese Bezeichnung ohnehin wertlos, denn das abgenutzte Wort Großmeister wird bekanntlich von vielen unkompetenten Leuten mißbraucht so daß es ohnehin wertlos geworden ist In seiner typischen Art kehrt er gerne sein „tödliches Image“ in den Vordergrund und versetzt somit anderen Vertretern des Stils einen Schlag ins Gesicht Der einst so streitsüchtige Chinese sagt offert „Ich kann nicht besonders gut kämpfen und mein Kung Fu ist auch nicht so besonders.“ Er steht auf dem Standpunkt, daß man ständig hart an sich arbeiten muß, um gut zu werden Da hilft es auch nicht der Sohn eines Großmeisters zu sein, oder die Kenntnis über alle erdenklichen tödlichen Kampftechniken zu besitzen, denn nur so wird man Meister eines Systems und nicht sein Sklave. Für Wong ist das Wing Chun eher eine Sportart als eine Kunst, denn es zählt gut zu sein, und nicht weise. Der Vergleich der Systeme stellt sich für Wong ganz einfach dar. „Wenn A und B gegeneinander kämpfen, und B geht KO, dann wissen wir, daß A gewonnen hat Es gibt einen Sieger und einen Verlierer. In der Musik ist das anders. Man kann das Gitarrenspiel eines Musikers mögen oder nicht Es ist eine Kunst, und so ist es nicht möglich zu beweisen, welches Musikstück besser ist als das andere, Im Kung Fu ist es anders, denn man kann sehr wohl beweisen, daß es funktioniert. Das ist der Unterschied zur Kunst. In den Martial Arts zählt nur die Effektivität, nicht die Schönheit in den Augen des Betrachters.“ Aussagen wie diese sind charakteristisch für die bodenständige Haltung Wongs gegenüber Kampfsituationen. Insider wissen angesichts seines Rufes auf den Straßen Hong Kongs diesen Standpunkt richtig einzuordnen Wong begann bereits als Jugendlicher mit dem Kampfsport. Unterschiedliche Budosportarten und der Boxsport waren seine ersten Steckenpferde. Besonders das klassische Boxen interessiert ihn davon noch bis zum heutigen Tag. Es ist eine besonders praktische Sportart für den Gebrauch auf der Straße, denn man lernt zu nehmen und zu gehen. Anders als im Kung Fu wo man lediglich versucht, den Händen seines Gegners nachzujagen. Wahrscheinlich hätte sich Wong dem Boxen sogar ganz verschrieben, wenn es nicht zwei signifikante Zwischenfälle in seinem Leben gegeben hätte. Zunächst hatte Wong einmal Arger mit seinem Boxtrainer. Beim Sparring traf er ihn unbeabsichtigt hart ins Gesicht. Zur Revanche prügelte der Trainer auf Wong solange ein, bis dieser blutüberströmt zu einem Verzweiflungsschlag ausholte und seinen Lehrmeister zu Boden schickte. Wong verlor jeglichen Respekt für den Trainer und kehrte zu keiner neuen Unterrichtsstunde zurück.
Wongs Vater und Großvater, beide Doktoren in traditioneller chinesischer Medizin, pflegten Kontakt mit der Kampfsportwelt in Hong Kong. So hatte er bereits als kleiner Junge viele Geschichten und Legenden über die heimischen Helden gehört Sein Großvater war darüber hinaus mit Chan Wa Sun befreundet dem ersten Wing Chun Meister seines künftigen Instruktors Yip Man. So wurde Wongs Interesse für Chans Kampfkunst dem „Geld-Wechsler“ (Jau Chin Wa) aus Fatsaan geweckt Er erinnerte sich an die Geschichten über Chan und dessen Meister, dem legendären Fatsaan Jan Sinsaang (Dr. Leung Jan, ein bekannter Naturheilkundler im neunzehnten Jahrhundert bekannt geworden durch seine unvergleichlichen Kampftechniken). Wong beschloß, sich das Wing Chun einmal genauer anzuschauen. Es traf sich zufällig, daß einige Freunde seines Bruders ihn zum Training einluden. Sein ersten Übungen endeten schließlich in einem Kampf mit dem Mann, der später sein Meister werden sollte. Die Rede ist von Yip Man, der ihn gründlich besiegte. Von diesem Moment an wurde Wong zu einem begeisterten Mitglied des Wing Chun Clans. Bereit&nach einem Jahr hatte er praktisch einhändig das Wing Chun System von einer Position des Verborgenen, praktisch Unbekannten zu einer wahren Machtstellung in den Kampfstilen des südlichen China promoviert Heute hat der 59jährige Chinese bereits 38 Jahre Wing Chun Praxis auf dem Buckel. Und dennoch arbeitet er stets daran, zu entwickeln und weiterzugeben Er verbringt jedes Jahr mindestens drei Monate damit, in alle Welt zu reisen, um Seminare zu geben, in denen er seine Interpretation der Techniken in einer ungewöhnlich ehrlichen und realistischen Art an den Mann bringt Er ist und bleibt ein Freund der Realität So rät er seinem interessierten Publikum, daß Kampfsport nicht unbesiegbar macht und daß es in vielen Situationen besser ist wegzulaufen, als sich einem Kampf zu stellen. Er sagt ganz unverblümt daß man ganz schön dummdreist sein muß, wenn man glaubt daß man durch Kampftraining eine ganze Gang besiegen kann, und lediglich Schweiß als Preis dafür zu entrichten sei. Und er fährt ernüchternd fort: „Wenn man Kampfsport betreibt dann muß man gegenüber anderen stärker und ausdauernder werden Daß heißt: Wenn man geschlagen wird, kann man mehr einstecken als ein untrainierter Mensch. Ich wurde schon oft getroffen, ebenso die wahren Größen des Kampfsports, die ich kenne. Durch das Training werden wir nicht zu Übermenschen, aber wir lernen, mehr einzustecken als andere. Jeder Kampfsportler, der behauptet nicht getroffen zu werden, ist ein Lügner.“
Ein Kampf ist für ihn wie ein Schachspiel. Es ist praktisch undenkbar, ein Schachspiel zu gewinnen, ohne einige Figuren zu opfern. Im Vergleich dazu muß man sich bei einer handgreiflichen Auseinandersetzung damit abfinden, Verletzungen zu erleiden – und wenn es nur ein paar Kratzer sind. Diverse Narben an seinen Händen und verheilte Schnittwunden am Arm und auf der Stirn verleihen dieser Behauptung die nötige Bestätigung. Wenn es um Auseinandersetzun gen auf der Straße geht, dann könnte Wong so manches erzählen, doch diesen Teil seines Lebens spielt er nur allzu gerne hinunter.
Wie dem auch sei. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Wong vom 18ten bis zum 24sten Lebensjahr in zahlreiche Kämpfe mit Sportlern der verschiedensten Stilrichtungen verwickelt war. Bruce Lee attestierte seinem Lehrer, mehrere hundert Siege auf diese Art errungen zu haben. Realistische Schätzungen lassen jedoch eine Zahl von 50 bis 60 derartiger Konfrontationen als wahrheitsgemäß erscheinen, aus denen Wong stets als Sieger hervorging. Seine Siege wurden von der Presse als Heldentaten in dem Himmel gehoben. Eine australischer Reporter vermittelte dem siegreichen Chinesen auch Kämpfe gegen ausländische Gegner, u.a. gegen den 250 Pfund schweren russischen Boxer Giko.
In Presseberichten wurde Wong als der „König der Challengefights“ (Gong Sau Wong) bezeichnet Wenn er heute auf diese Zeit angesprochen wird, dann ist seine Anwort nicht ganz so voller Enthusiasmus, wie es seine Erfolge versprechen: „Eigentliche habe ich das Wing Chun nicht erlernt, um zu kämpfen. Das Kung Fu sollte benutzt werden, um sich zu schützen, wenn man körperlich angegriffen wird. Nachdem ich jedoch die Techniken von Yip Man gelernt hatte, wollte ich die Gelegenheit nutzen, sie auszuprobieren Durch die Kämpfe experimentierte ich mit ihnen, konnte ihre Grenzen kennenlernen und sie mit anderen Stilen vergleichen, um mich schließlich selbst zu verbessern. Ich lernte aber auch, daß ich mich nicht alleine auf diese Experimente verlassen konnte.“ Zu jener Zeit führte Wong den jungen Bruce Lee in dessen erste Challenge Fights ein. Er coachte ihn zwischen den Runden, trieb ihn dazu an weiterzukämpfen, als dieser den Kampf aufgeben wollte.
Das Resultat dieses Coachings und der Siege Lees kennt heute jeder. Bruce Lee avancierte bis zu seinem tragischen Tod 1973 zum größten Superstar der asiatischen Kampfkünste. Bis heute ist der längst Verstorbene die bedeutenste Leitfigur im Budosport Noch heute erzählt man sich, daß Yip Man folgendes zu Wong gesagt haben soll: „Glücklicherweise hast Du ihn begleitet und zum Sieg getrieben. Diese Prüfung seiner kämpferischen Fähigkeiten übt vielleicht eine wichtige Funktion für seine Zukunft aus. Wenn Bruce Lee einmal Erfolg haben wird, dann wird der Ruhm dafür alleine Dir gehören.‘ Jesse Glover schrieb über Wong, daß er über vier Jahre der Lehrer Lees war und daß der spätere Leinwandheld insgesamt 18 Monate intensiven Privatunterricht von ihm erhielt und somit nachhaltigen Einfluß auf ihn ausübte. Laut Glover soll Lee sich 1959 über Wong wie folgt geäußert haben: „Wong war der größte Kämpfer im Wing Chun Stil, er besiegte alle Herausforderer.“
Neben seinem großartigen Talent für das Wing Chun beschäftigt sich Wong noch mit zwei. weiteren Berufen. Zum einen ist er wie seine Vorfahren ein Doktor der traditionellen chinesischen Medizin. Zum anderen ist er durch Selbststudium Kaligraph geworden. In seiner Freizeit liest er am liebsten alte chinesische Poesie, geht gerne mit seinen Freunden aus, um bei gutem Essen und einem alten Brandy amüsante Geschichten und Witze zu zelebrieren. Ein englischer Journalist hat die Erscheinungsweise des Chinesen einmal treffend beschrieben: „Man sieht zuerst, daß Wong ganz normal aussieht Irgendwie scheint er zu klein und zu freundlich geraten zu sein, um der legendäre Wong Shun Leung zu sein.“ Lediglich seine Bewegungen und seine Art zu beobachten verraten etwas über seinen Charakter und seine Disziplin, die er sich angeeignet hat.
Viele Europäer stellen sich unter einem Sifu einen betagten, weisen Mann vor, wie man ihn z.B. aus den Filmen „Kung Fu“ und „Karate Kid“ kennt. Doch von all den glorifizierten Merkmalen eines Wunsch-Großmeisters legt Wong kaum etwas an den Tag. Er ist ein sehr humorvoller, freundlicher und leicht zugänglicher Mensch. Dennoch ist er ein sehr erfahrener Kenner des Kampfes schlechthin, der sehr präzise Vorstellungen über den Zweck und die Wirkung von Kung-Fu-Techniken hat Er blieb lieber als Instruktor im Hause Yip Mans als fortzugehen, um eine eigene Schule zu eröffnen. Wong konnte von ihm mehr lernen als viele andere, so daß ein Anspruch auf die Thronfolge des verstorbenen Großmeisters sicher legitim wäre. Aber das kümmert ihn nur wenig, er konzentriert sich lieber auf seine Aufgabe des Lehrens und läßt dabei seine Erfahrungen und seine Fähigkeiten für sich sprechen.
Über Selbstverteidigung redet Wong wie folgt: „Wenn man Kung Fu erlernt, will man kämpfen können. Wenn man nicht kämpft und gewinnt wie will man sich dann verteidigen? Daher muß man solange trainieren, bis man in der Lage ist den Gegner zu besiegen.“ Eine starke Meinung. doch Wong basiert seine Behauptung auf jahrelange Erfahrungen. Für ihn sind viele Übungen der meisten Kampfsportarten kaum mehr als eine Spielerei. Auch wenn für ihn die Zeit der Challenge-Fights lange vorbei ist erinnert er sich mit ein wenig Wehmut an die alten Tage. Für ihn fehlt heute zumeist realistisches Training, bei dem das Sparring lediglich einen ärmlichen Ersatz für tatsächliche handgreifliche Auseinandersetzungen bildet Wong warnt die Besucher seiner Seminare eindringlich davor, blindlings den Vorgaben ihrer Sifus zu folgen. Das Kopieren von Bewegungen und das kritiklose Vertrauen ist Humbug. Um den Unterschied von Kampfsport zu -kunst zu verdeutlichen führt er als Beispiel das Malen an. Man kann von seinem Meister lernen zu malen, man kann jedoch nicht lernen, genauso zu malen wie er. Deshalb rät er den persönlichen Stil zu unterscheiden: „Der Charakter und die Statur eines Menschen beeinflußen sein Handeln. Wenn man seinen Lehrer nachahmt kann nicht mehr als eine Kopie dabei herauskommen. Man kann sich weder ausdrücken noch verbessern.“ Das soll aber kein Freibrief für einen Wing Chun Schüler sein, zu tun und zu lassen, was er für richtig hält Wong glaubt sehr stark an die Effektivität des Stils, wie er ihn erlernte und wie er ihn heute an Lernwillige weitergibt Er macht lediglich den Unterschied, daß er von einem realistischen Blickwinkel an die Anwendung herangeht und den Schülern einen größeren Spielraum heim Interpretieren gibt Zum Spaß zieht der humorvolle Wong gerne einmal einen Witz über die verherrlichten Mythen um den Budosport aus dem Register, um deren Glaubwürdigkeit ins rechte Licht zu setzen Für ihn gibt es keine Geheimnisse und keine Geheimtechniken. Sifus, die so etwas behaupten, sind für ihn schlichtweg Betrüger. Er muß es schließlich wissen, denn sonst wäre er selbst schon längst ein toter Mann. Dazu eine Anekdote: Vor rund 35 Jahren hatte er bei einer Auseinandersetzung einen Mann zu Boden geschlagen Als er die Stelle der Auseinandersetzung verlassen wollte, rief ihm der Niedergeschlagene zu: „Hey, Du da – geh nicht weg. Du hast keine Chance, denn ich habe Dich vorhin mit einer tödlichen Technik (Dim Mak) getroffen!“ Wong ging dennoch und ist immernoch am Leben „Sein Dim Mak hat einfach nicht funktioniert,“ kommentiert er die Leichtgläubigkeit seines früheren Widersachers mit einem verschmitzen Lächeln Das gleiche Lächeln hat er auf den Lippen, wenn man ihn nach der Effektivität des vielzietierten Dim Mak (Töten durch gezieltes Berühren) fragt „Wenn man sich selbst berührt, kann man sich aus Versehen umbringen,“ ist sein lapidarer Kommentar zu dieser Geschichte, der er aber zumindest einen theoretischen Stellenwert einräumt ,Außerdem ist es faktisch unmöglich, einen Angreifer, der in Bewegung ist präzise an den gewünschten Körperpunkten zu treffen.“ Wong ist in der Tat eine Persönlichkeit, die man nur sehr selten findet. Er versucht nicht seinen Ruf als der einst so formidable Straßenschläger Hong Kongs und als Lehrer von Bruce Lee auszuschlachten. Auch zieht er nicht durch die Lande, um jedermann zu verkünden, wie gut er doch ist und verzichtet ganz und gar darauf, andere Lehrer und Systeme schlecht zu machen. Trotz seines einzigartigen Könnens ist er keineswegs anmaßend. Sein Dojo ist klein und eintönig (Anmerkung der Redaktion: für EWTO-Mitglieder eintönig schmuddelig). Der Luxus der westlichen Sportschulen fehlt. Das einzige, was zählt, ist die Qualität des Lehrers – und die stimmt.
Ob in Melbourne oder München, Wong hat weltweit das Verständnis für das Wing Chun geprägt. Jeder, der von ihm lernen wollte, erhielt dazu Gelegenheit, ohne gleich mit einem Knebelvertrag an eine bestimmte Organisation gebunden zu werden. Trotz, oder gerade wegen seiner Liebe für das Kung Fu, gibt er sich als strikter Gegner von Scharlatanen und als Freund von Neugierigen. Er ist zum Inbegriff des Wing Chun schlechthin geworden – und dennoch ist es sein Ziel, sich von Tag zu Tag zu verbessern.
David Petterson