Randy Williams: Top Level Wing Chun

Top Level im Wing Chun:
Das Geheimnis der Acht

Das System des Wing Chun birgt viele Geheimnisse. Übungen und Formen besitzen ein tiefgründige Bedeutung, die weit über das Offensichtliche hinausgeht. Nur wenige westliche Meister beherrschen auch die höchsten Stufen. Einer von Ihnen ist der US-Amerikaner Randy Williams. Er berichtet in einem Exzerpt aus seinem Buch „Wing Chun Gung Fu: The Explosive Art of Close Range Combat“ über die schwierigste Waffenform des Systems.

Randy Williams
Randy Williams mit Schmetterlingsmessern

„Bot“ Jom Doh nennt man die zweite Schmetterlingsmesserform im Wing Chun, es stellt den höchsten Schwierigkeitsgrad des Systems dar. Nur nach jahrelangem, sorgfältigem Training kann man diese Form ausüben. Man kann das Erlernen dieser Form auch als die „höchste Belohnung“ bezeichnen, die ein Wing Chun Meister einem Schüler beibringen kann. Ich selbst habe die Form erst gezeigt bekommen als ich 15 Jahre Wing Chun trainierte und die Handtechniken „Wing Chun Kuen“ perfektioniert hatte.
Im Wing Chun trägt jede Form einen Namen mit tiefer Bedeutung, die den Ausübenden dazu bewegen soll, mit der richtigen „Idee“ im Hintergrund durchzuführen. Im Fall von „Bot“ Jom Doh gibt es drei Bezeichnungen, die auf Ideen fußen. Zum einen besteht die Form aus acht Sektionen, zum anderen wird ausgedrückt, daß die Bewegungen der Messer niemals exakt vertikal oder horizontal ausgeführt werden dürfen. Stattdessen werden die Bewegungen in Winkeln ausgeführt die dem chinesischen Schriftzeichen „Bot“ entsprechen, das der Ziffer acht entspricht. Diese Verbindung von Schriftzeichen und Bewegungsabläufen ist typisch für die Übungen im chinesischen System. Man finden es z.B. bei „Sup“ Jee Sau („X“-Hände) und „Yut“ Jee Choong Kuen („Sonnen“-Schlag) aus der Siu Leem Tau Form. Der dritte Grund  für den Namen  hat mit den zahlreichen unterschiedlichen Winkeln der Ausführung zu tun. Ein altes chinesisches Idiom, „Bot Foang“ steht wörtlich für „acht Gegenden,“ was soviel bedeutet wie „in alle Richtungen.“

Geschichte
Obwohl die Herkunft der Bot Jom Doh Form nicht völlig klar ist, und deren Existenz von einigen Meistern abgestritten wird, führt man ihren Ursprung auf den Meister Miu Heen, einem der fünf Weisen des Shaolin Tempels, zurück. Es ist wahrscheinlich daß die Mutter des Stils, Ng Mui selbst den Umgang mit den kurzen Schmetterlingsmessern beherrschte. Man kommt zu dieser Auffassung, da in den Shaolin Tempeln (Siu Lum Jee) ähnliche Waffen verfügbar waren.  Sogar heute findet man in vielen chinesischen Systemen Waffenformen, z.B. mit dem Woo Deep Doh, mit und ohne Partner, obwohl diese doch etwas anders sind als die Bot Jom Doh.
Messerstruktur
Die Waffe besteht aus einer kurzen, dicken Klinge, ca. 30 bis 35 cm lang. Es ist wichtig, daß man nur mit speziell für das Wing Chun Training entwickelten Waffen trainiert. Klingen aus dem Shaolin können z.B. durch ihre unterschiedliche Klingenlänge nicht so eng am Oberkörper und Oberarm vorbeigeführt werden. Die Klinge kommt auf einen starken Griff, der auch für Fausthiebe eingesetzt werden kann. Auf der unscharfen Seite befindet sich ein kurzer Haken, mit dem man Waffen eines Gegners blockieren und durch drehen entfernen kann. Die scharfe Seite der Klinge erstreckt sich bis über die Spitze und rund 7 cm auf der gegenüberliegenden Seite um auch bei Rückhandtechniken schneiden zu können.
Randy Williams
Damit beide Messer in einer Hand gehalten werden können, z.B. in der Eröffnung der Form, weisen die Innenseiten der Griffe eine flache Seite auf. Die Klingen sind symmetrisch geformt, so daß man sie auch mit beiden Messern in einer Hand führen kann. Letztlich entspricht die halbrunde Gestalt der Anatomie der menschlichen Hand besser als ein ganz runde Form. Die halbrunde Form des Handbügels nennt man „Doh Jahng,“ oder „Ellbogen des Messers.“ Es unterstützt das Handgelenk bei Drehbewegungen ähnlich dem Ellbogen, der z.B. beim Boang Sau die Positionen unterstützt. Daher läßt sich auch erklären, daß die meisten Bewegungen der Messerform nach dem Prinzip der blockierenden Ellbogen ausgeführt werden.
Der untere Teil des Handbogens kann bei Schlagbewegungen, die nach unten gerichtet sind, eingesetzt werden. Man nennt diese Form der Bewegung auch „Chuo Doh“ oder „hämmerndes Messer.“ Der obere Teil des Bügels kann für besonders harte Schlagtechniken eingesetzt werden, die auf die Nase und den Mund des Gegners gerichtet sind, wobei die Klinge gleichzeitig die Stirn trifft. Hebelbewegungen gegen das Messer eines Gegners, oder etwa einen Stock, Schert oder ähnlichem werden ebenfalls mit dem Haken am Griff ausgeführt. Diese Form der hinterlistigen Kampfesführung bezeichnet man als „Lau Doh Soh,“ was soviel bedeutet wie „drehender Messerhebel.“ Man kann diesen Haken auch dazu benutzen um ihn mit einem Schlag aus kurzer Distanz einzusetzen. Die Klingenflächen werden für Schlag- und Pressbewegungen benutzt. Man kennt sie aus Pock Sau und Gum Sau. Bildlich werden die Seiten der Klinge auch als „Handfläche des Messers“ dargestellt. Im Einsatz gegen einen Angreifer mit einer Wurfwaffe, wie z.B. Messer, Wurfmesser oder Steine, können die Seiten als Schild verwandt werden.
Randy Williams Wing Chung
Die unscharfe Rückseite der Klinge kann dafür eingesetzt werden, den Gegner am Hinterkopf herbeizuziehen. Man kennt diese Form der Bewegung aus Pon Geng Sau in der Holzpuppenform. Der Grund dafür, den oberen Teil der stumpfen Seite anzuschärfen, liegt darin, daß man dadurch eine Klinge, die in das Zielobjekt eingedrungen ist, leichter herausziehen kann, bzw, den Schlitz durch beidseitige Bewegungen vergrößern kann, wie in der zwanzigsten und einundzwanzigste Bewegung der beschriebenen Form dargestellt. Ausserdem unterstützt die zusätzliche Schärfe das Eindringen und Schneiden der Kleidung. Die geschärfte Spitze wird bei zahlreichen schneidenden (Jom Doh), hackenden (Chanhng Do und Fun Doh)  Bewegungen sowie bei vielen Blöcken eingesetzt, bei denen ein An-griff abgewehrt und ausgekontert werden soll.
Vorteile des Bot  Jom Doh Trainings
Obwohl bis zum heutigen Tage  der Wing Chun Übende diese Waffe als ein wenig altmodisch und unpraktisch ansieht,es ist schwer zu verbergen und daher auch schwer zu mit sich zu tragen, stimmen die Vorurteile nicht ganz. Die Prinzipien des Messertrainings begünstigen einen Schüler in na-hezu allen Belangen beim Umgang mit scharfen Gegenständen jeder Art. Zu Beispiel, abhängig von der Situation, kann der Wing Chun Kämpfer mit normalen Messern, geraden Klingen, Glasscherben, Schraubenzieher, Wagenheber oder anderen waffenähnlichen Gegenständen nach den gleichen Prinzipien vorgehen. Ein weiterer Vorteil aus dieser Form, neben den offensichtlichen Merkmalen der Selbstverteidigung, ist die Entwicklung zusätzlicher Kraft in Handgelenk und Unterarm durch die peitschenden Bewegungen. Außerdem kommen im Ablauf der Bot Jom Doh Kombinationen der Stände Cheen Chong Ma, Ngoy Seen Wai und Hau Huen Juen Ma vor sowie diverse Abwandlungen der fünf Grundstände aus Bewegungsabläufen.
Form Holzpuppe
Man sieht den 80/20 „Ding“ Jee Ma („J“-Stand), den man aus vielen Stilen als Katzenposition kennt, und der erstmals den „Look Deem Boon“ Gwun Stock Set angewandt wurde. Er kommt als 46ste Bewegung der Bot Jom Doh Form vor, obgleich er dort etwas tiefer ausgeführt wird. Ein anderer Punkt, der zwischen der Messerform und der „Pole“-Stock-Form gleich ist, besteht in der wiederholten zurückweichenden Beinarbeit – Toy Ma, einem Zurückweichen in unterschiedlichen Winkeln. Diese Beinarbeit befähigt den Wing Chun Kämpfer schnell vor hervorkommenden Messerstichen zurückzuweichen, um dann die Vorwärtsbewegung für den Angriff einzusetzen. Hier kommt das Prinzip der Jui Ying Beinarbeit zum tragen, die man genauer als „Bick Ma“ bezeichnet.
Das zusätzliche Gewicht und der daraus resultierende Schwung helfen, mit der Waffe eine höhere Torsion in allen Aspekten der Beinarbeit beim Bot Jom Doh zu erzielen. Der Körper des Übenden wird durch die Zentrifugalkräfte der kreisförmigen Schläge und Bewegungen mit den Messern besonders belastet. Diese Kraft erfordert eine höhere Gegenkraft um zum Beispiel Waffen des Gegenüber nach innen zu ziehen. Auf diese Weise verbessert sich die gesamte Beinarbeit durch das Messertraining.
Randy Williams WT
Schneideprinzipien
Keine schrägen Griffe: Bei nahezu allen Stichen, Schwüngen und Schlägen wird der Griff gerade umfaßt. Dadurch wird gewährleistet, daß die Kraft aus dem Unterarm und Handgelenk in die Waffe übertragen wird und vor allem Blocktechniken umso stärker ausfallen, als wenn man die Klingen gegen den eigenen Körper wendet und sich damit in eine schwache Position begeben würde. Das ist einer der großen Gegensätze zu den Schmetterlings-Messer-Formen anderer Gung Fu Stile, in denen umgekehrte Griffe durchaus gebräuchlich sind.
Partner Wing Chun
Schneiden im Winkel
Wie bereits aufgeführt basiert die Namensgebung für die Bot Jom Doh Form in der Zusammenstellung der Richtungen, welche die Klinge beim Ausführen der Techniken beschreibt. Es vollendet die Form der chinesischen acht. Keine einzige Ausführung in dieser Form wird gerade vertikal bzw. horizontal ausgeübt. Der Sinn für die unterschiedlichen Winkel hat zwei Gründe. Zuerst muß man sich vor Augen halten, daß ein diagonaler Hieb erheblich schwieriger zu blocken ist, was mehr als einleuchtet. Zweitens ermöglicht das Schneiden nach unten oder oben den Klingen bloße Gravitationskraft entgegenzusetzen.

8 Schwert
Die obere Skizze zeigt wie es falsch ist, die unteren Beiden den richtigen Schneidewinkel

Um die Logik des diagonalen Schnittes besser zu verstehen, genügt ein kleines Experiment mit einem leichten Stock. Veranlassen sie einen Partner gerade vor ihnen zu stehen. Wenn sie mit diesem Stock horizontal auf ihn einschlagen, wird es ihm durch einfaches Zurückweichen möglich sein, einen Treffer zu vermeiden. Wenn man von oben oder unten schlägt, wird er einfach zur Seite gehen, um mühelos auszuweichen. Wenn man mit einem Swing diagonal schlägt, ist es für den Gegenüber viel schwieriger die exakte Bahn des Stockes zu erkennen. Er ist gezwungen seine volle Aufmerksamkeit auf das Ausweichen zu konzentrieren und kann selbst wenn er es schafft, an nichts anderes, wie z.B. einen Konter, denken. Er ist in der Falle und kann nicht mehr hinaus.
Ein weiterer, vielleicht noch wichtiger Grund für die diagonale Schlagtechnik aus dem Bot Jom Doh ist die Eigenschaft des Messers, tiefer in Objekte einzudringen, da keine Möglichkeit für Ausweichen und Nachgeben vorhanden ist. Man kann dieses Prinzip an einem jungen Baum nachprüfen. Versucht man ihn mit einen horizontalen Hieb zu fällen, wird er die Axt oder das Messer abfedern und es bleiben nur ein paar Kratzer an der Rinde. Fällt man ihn hingegen mit einem diagonalen Schlag, hat er keine Möglichkeit die Energie abzufedern. Das Messer geht durch den Stamm hindurch. Dasselbe Prinzip trifft zu, wenn ein Messer oder Schwert gegen eine lebenden Körper gerichtet wird. Ein altes Chinesiches Sprichwort besagt: „Bot Jom Fot Sai Moh Syeung,“ was soviel bedeutet wie, „Die Techniken des Acht-Klingen-Messers kennen keinen Widerstand.“


Kung Fu Revue 1
Cover der ersten Deutschen Kung Fu Revue von 1996

Dieser Artikel erschien in der Erstausgabe der Kung Fu Revue 1996 einer der wichtigsten grossen Artikel. Randy Williams stellte diesen aussergewoehliche Artikel und das begleitende Material bei. Danke Randy. Interessierte Sportler finden hier mehr Informationen: http://www.crca.de/
Artikel zu Randy Williams aus dem Versandhandel:
Literatur von Randy Williams