Samuel Kwok: Der Pfad zum Wing Chun

Samuel Kwok

Als Kind konnte er von der Wohnung seiner Eltern in Hong Kong ein Freiluftkino einsehen. Mit Hilfe eines Fernglases hatte der Junge die Möglichkeit, die neusten Kung Fu Filme zu sehen, die 500 Meter entfernt über die Großleinwand flimmerten. Vielleicht hat er es damals noch nicht gewußt, doch genau dieser Einfluß weckte in ihm später großes Interesse für das Kung Fu Training.

Samuel Kwok
Als rechte Hand der Yip Man Söhne Yip Chun und Yip Ching ist er weltweit bekannt. Wir stellen den Mann vor, der über die Kirche zum Wing Chun gekommen ist.

Samuel Kwoks Vater war ein Geistlicher der englischen Kirche. Zunächst untersagte dieser dem Jungen das Kung Fu, weil er wollte, da? er sich auf seine Schulaufgaben konzentrierte. Dieses Verbote setzt er durch, obwohl mit Lok Chi Fu, ein weiteres Familienmitglied diese Kunst ausübte. Kwoks Onkel war ein bekannter Großmeister des Weißen Kranich Stils, außerdem praktizierte er als Heilpraktiker und Knochenspezialist in Hong Kong. Es gab eine Kung Fu Schule gerade um die Ecke, deren Musik beim Löwentanz bis zur Wohnung der Kwoks zu hören war. Das und die Kung Fu Filme, die er von der Terasse aus ansah, förderten sein Verlangen, selbst die antike Kriegskunst lernen zu wollen. Im besonderen waren es die Filme mit Wong Fei Hung, einem bekannten Meister des Hung Gar, die seinen Hunger anstachelten.
Start mit Taekwondo
Nachts fand auf einem Platz in der Nähe seines Zuhauses ein Markt statt. Hier verkauften aus China geflohene Kung Fu Meister Heilkräuter, außerdem führten sie gelegentlich ihre Formen vor. Das er?ffnete ihm zunächst die Möglichkeit Taekwondo zu lernen, später kam er zum Kung Fu Stil des weißen Kranich.
Überfall mit Stichwaffe
Gerade zu dieser Zeit wurde er Opfer eines Überfalls durch die Triaden. Es stellte sich heraus, daß er nur irrtümlich als Ziel ausgewählt wurde. In einer dunklen Seitenstraße wurde er mit einem Messerstoß zum Gesicht angriffen. Nach typischer Angriffsweise der Triaden folgt direkt ein Stich in den Bauch. Glücklicherweise hatte Samuel bereits einige natürliche Reflexe durch das Training konditioniert, so daß er den Angriff blockte und gleichzeitig mit einem Kick von einem weiteren Stich abbrachte. Der Messerstecher ergriff die Flucht. Obwohl ihm von diesem Überfall eine Narbe auf dem Arm zurückblieb, ist er froh, diesen Angriff überstanden zu haben. Hätte er sich nicht wehren können, wäre er wahrscheinlich schwer verletzt oder gar getötet worden.
Zur Berufsausbildung nach London
1972 wanderte Kwok nach England aus, um sich in einem medizinisch, psychiatrischen Beruf ausbilden zu lassen. Als er in London lebte besuchte er die Messe von Reverend Kao, der zufällig auch ein Kampfkünstler war. Der Priester praktizierte Kan Tak Hoi, besser ein Stil, der Bewegungen von Affen zur Selbstverteidigung verwendet. Kao erzählte Kwok über das verstorbene Gemeindemitglied Lee Sing, einen Wing Chun Lehrer. Er war es, der das Wing Chun innerhalb der chinesischen Bevölkerung bekannt machte. Kurze Zeit später lernte Kwok Joseph Cheng kennen, einer der frühen Pioniere für das Wing Chun in England, der – so sagt man – der bestbekannte Schüler von Lee Sing war.
Akupressur und Drachentanz Training
Kwoks Vetter, Michael Lok, Sohn von Lok Chi Fu, besuchte 1975 London. Kwok nahm die Gelegenheit wahr um von ihm die Techniken der Akupressur zu erlernen. Außerdem lernte er von ihm Dit Da und den Drachentanz. Er assistierte ihm bei den Behandlungen und lernte auf diese Weise sehr viel über die chinesische Medizin. Außerdem erhielt er von der Schule des Weißen Kranichs direkt von Meister Lok Chi Fu ein Anerkennungszertifikat. Von dieser spezielle Schule des Weißen Kranichs behauptet man, daß sie aus dem Tibet stammt, wo sie von den Lama-Mönchen ausgeübt wird.

Samuel Kwok
Beim Langstocktraining im Hauptquartier der Ving Tsun Athletic Association in Hong Kong.

1976 reiste Kwok zusammen mit einer Truppe auf eine Tour durch Deutschland und andere europäische Länder um Demonstrationen zu geben. Damals war Kung Fu noch kaum verbreitet. Zusammen mit den bekannten Meistern aus Hong Kong erkannte Kwok, daß sich sein Traum vom Kung Fu, den er als Kind auf dem Balkon vor dem Freilichttheater hatte, erfüllt hat.
1978 wollte er endlich selbst herausfinden, „warum alle, obwohl sie behaupteten unter Yip Man trainiert zu haben, ihr Wing Chun Kung Fu unterschiedlich ausübten“. Er reiste nach Hong Kong. Zu dieser Zeit trat Lee Sing mit der Hilfe von Yip Chun, dem ältesten Sohn von Yip Man, der Yip Man Martial Arts Association bei. Es war im Hause von Yip Chun, wo Lee Sing zum ersten Mal die Schmetterlingsmesser bewunderte, die einst Yip Man gehörten. Yip Chun schenkte ihm diese Messer, wodurch sich Sing sehr geehrt fühlte.
Erstes Treffen mit Yip Chun
Bei diesem ersten Treffen sprach Yip Chun die Einladung für Samuel Kwok aus, die Holzpuppentechniken zu erlernen. Zu dieser Zeit galten diese Techniken als streng geheim, um so ?berraschter zeigte sich Kwok, als er beim zweiten Treffen erneut eingeladen wurde, die Techniken zu trainieren. Er wußte, daß es eine große Ehre darstellte. Er hatte nicht nur den richtigen Pfad, sondern auch den richtigen Führer gefunden. Bei Chuns Demonstrationen bewunderte er die Fertigkeiten des kleinen Mannes, der ihm nicht nur die richtigen Antworten gab, sondern auch noch alles einwandfrei zeigen konnte.

Yip Chun
Kwok (m.) mit Yip Ching, dem jüngsten Sohn Yip Mans (li.v.), und Chu Shong Tin (re.v.) sowie eigenen Schülern

Ständiger Kontakt nach Hong Kong
Seitdem trainiert Kwok sehr intensiv, steht dabei in ständigem Kontakt mit Yip Chun. Man kann sagen, Kwok stellt die Fundgrube des umfassenden Wissens des ältesten Sohnes von Yip Man dar. Kwok hatte Glück, denn Chun arbeitete damals als Buchhalter, so daß er ihn jeden Abend und am Wochenende unterrichten konnte. Es war für ihn eine ganz besondere Zeit und Ausbildung, aus der eine Lehrer-Schüler-Beziehung erwuchs, die bis heute Bestand hat. Er sagt, da? Yip Chun ein außergewöhnlicher Lehrer ist, intelligent und humorvoll obendrein. Die Freundschaft ging so weit, daß Samuel Kwok die Yip Man Martial Arts Associations bei großen Demonstrationen in Hong Kong repräsentierte. Viele seiner Schüler erlangten dadurch großen Erfolg in unterschiedlichen Disziplinen.
Förderung direkt durch Yip Chun
Yip Chun ermutigte Kwok selbst zu unterrichten und das Wing Chun dadurch populärer zu machen, wenn er keine Zeit für den Unterricht fand. Die Nachfrage für Unterricht mit Yip Chun ist heute auf einem neuen Rekordstand. Einen gewissen Anteil an diesem Erfolg hat auch Samuel Kwok, der keine Mühen gescheut hat, die Fertigkeiten Chuns in der Öffentlichkeit anzupreisen.

Yip Chun
Frühjahr 1997: Kwok (r.) übersetzt bei Yip Chuns ersten Seminaren in Deutschland aus dem Chinesischen

Regelmäßige Lehrgänge in ganz Europa
1981 kehrte Kwok nach England zurück, wo er gleich die ersten Seminare mit Yip Chun organisierte. Seitdem führt er diese Lehrgänge regelmäßig durch, um seinen Schülern die bestm?gliche Ausbildung in Wing Chun zu geben, die seiner Meinung nach erhältlich ist. Er hat darüber hinaus viele seiner eigenen Schüler dazu ermutigt, selbst einmal nach Hong Kong zu reisen. Unter ihnen, heute so bekannte Leute wie Martin Bierley, Shaun Rawcliffe und Steve Lee Swift.

Hong Kong Ving Tsun
Kwok (r.) und Steve Lee Swift vor der Skyline von Hong Kong. Die beiden veranstalteten das erste Yip Chun Seminar in New York.

Premiere in New York wird großer Erfolg
Steve Lee Swift war es, der 1994 zusammen mit Kwok die ersten Seminare in New York veranstaltete: ein riesiger Erfolg. Heute ist Samuel Kwok der weltweite Repräsentant von Yip Chun und dessen jüngeren Bruder Yip Chun. Dieser ist für ihn nicht nur ein guter Lehrer, sondern ein enger Freund. 1995 schrieb Kwok erneut englische Wing Chun Geschichte, als er erstmals Yip Ching für Seminare einlud, in denen er für jederman zugänglich das Yip Man Wing Chun demonstrierte. Dabei wurde er von Chu Shong Tin unterstützt, dessen Lehrmethoden ebenfalls sehr gut aufgenommen wurden.
Eigener Verband reicht bis nach Florida
Samuel Kwok hält regelmäßig Seminare in Dänemark ab. Die guten ausländischen Schüler lädt er gerne dazu ein, ihn in seiner Heimatschule im englischen Blackpool zu besuchen. Dave Gallaher war 1995 noch ein Kali-Lehrer bevor er von Florida nach England reiste, um von Kwok zu lernen. Heute repräsentiert er die Samuel Kwok Martial Arts Association in Florida. Kwok war bei der Produktion des Videos „Original Wing Chun“ behilflich, bei der original Material von Großmeister Yip Man und Yip Chun der Welt zugänglich gemacht wurde. Mit diesem Video wurde ein quasi Standard für die Ausführung der Wing Chun Techniken gesetzt.

Buchautor mit internationalem Ruf
Als Autor des Buches „Path to Wing Chun“ zeigt er vor allem Beginnern den richtigen Einstieg in das System. Das Werk wurde in mehrere Sprachen übersetzt und in einer Neuauflage auch in den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada verbreitet.
Herausforderungen immer bestanden
Es gibt eine alte Weisheit im Wing Chun, die besagt, daß der Lehrer genau dann erscheint, wenn der Schüler bereit ist. In seinem Unterricht sieht man ihn ebenso einen Schüler durch Akupressur helfen wie die „klebenden Hände“ vorzuführen. Knapp über 180 cm groß gibt er sich als ein akademisch gebildeter Mensch, so daß ihn Konkurrenten gerne herausfordern. Er hat diese Angriffe, welche das Vermächtnis Yip Mans in Frage stellen, immer abgewehrt.
Text: Dino Orsolini