Zum Takt von fetziger Musik das Beste zu bieten, was die Kampfkünste offerieren, das ist die Spezialität der Formenstars. Wer kennt nicht die einzigartigen Musikkatas eines Jean Frenette, Kevin Thompson oder Mike Chaturantabut. Bei welcher anderen Darbietungsform gibt es im Budosport soviel frenetischen Applaus? Technik, Akrobatik, Schnelligkeit gepaart mit einer aggresiven Ausstrahlung werden in ein bis zwei Minuten so knackig dargeboten, daß man dafür getrost die meisten zweistündigen Actionfilme vergessen kann. Wir haben die besten Formenkünstler aller Zeiten in einer ewigen Rangliste vereint.
Mitte der siebziger Jahre vollzog sich bei amerikanischen Sport-Karateturnieren ein signifikanter Wechsel in den Kata-Disziplinen. Die Leute hatten genug von den festgefahrenen, traditionellen Katas und Hyongs. Die Freestyle-Formen kamen auf. In dieser neuen Disziplin konnten die amerikanischen Kampfsportler ihrer Kreativität freien Lauf lassen: Sie kombinierten Techniken unterschiedlicher Stile, stellten Katas selbst zusammen und boten den imaginären Kampf gegen fiktive Angreifer synchron zu Musik bei. Die Widersacher, die befürchteten, daß diese Entwicklung zu einem Kampfsport-Balett verkommen würde, mußten sich eines besseren belehren lassen. Traditionelle Katawettbewerbe kennt man heute in den USA kaum noch. Bei vielen Turnieren sind die Formen Wettkämpfe attraktiver als die meisten Kämpfe. So mag es auch nicht verwundern, wenn die Talentsucher aus Hollywood vornehmlich nach jungen Formenassen Ausschau halten, anstatt wie früher, guten Kämpfern nachzuspähen.
Wir haben diese Rangliste mit den besten und erfolgreichsten Formenkünstlern aufgestellt. Beim Ergebnis wird man feststellen, daß es sich ausnahmslos um Amerikaner handelt. Die US-Boys und Kanadier betreiben diese neue Form der Wettkampfkata sehr lang, so daß sie den Europäern weit überlegen sind. Der Vorsprung ist so graß, daß wir diese Ratings problemlos bis 100 oder 200 Ränge weiterführen könnten, ohne daß ein Europäer auftauchen müßte. Die Tatsache, daß bis auf den Hamburger Meisterschüler von Al Dacascos, Christian Wulf, nie ein Europäer erfolgreich an einem großen US-Turnier teilgenommen hat, unterstreicht diese Feststellung energisch. Die Entwicklung der Formen steckt in Europa noch in den Kinderschuhen. Es wäre mehr als nur eine Überraschung, wenn ein Europäer noch in diesem Jahrzent in die Spitzengruppe der US-Koryphäen einbrechen könnte. Aus Deutschland stehen mit Antony Spatola, Sandra Hess und Werner Stark drei Topstars an der europäischen Spitze. Bis zu einer ernsthaften Teilnahme an einem US-Turnier dürfte für die emsig trainierenden Super-Talente noch eine gewisse Entwicklung nötig sein.
Den entscheidenden Einfluß, daß die Formen sich so weit in den USA fortentwickelt haben, übte der in San Jose, Kalifornien, ansäßige Leiter des West Coast Demo Teams, Ernie Reyes Sr. aus (siehe KICK 5/95). Er vermischte als erster Stile und involvierte Musik in die Darbietungen. In Europa wurden die Formen durch die Aufnahme im internationalen Sportplan der WAKO bekannt. Die Begründer Mike Anderson (USA) und Georg Brückner (Berlin) beschloßen 1987 auf eigene Faust gegen die Stimmen der anderen Funktionäre die Formen einzuführen. Der große Erfolg in der Münchener Olympiahalle gab ihnen recht. Die Stimmen der übrigen Verbandsfunktionäre, die damals energisch gegen den Allein- gang protestierten – sich aber nicht durchsetzen konnten, sind schnell verstummt.
1. George Chung
Wie die meisten namhaften Formenläufer in den USA begann George Chung unter Ernie Reyes jr. mit dem Taekwondo. Chung war praktisch der erste große amerikanische Champion, der die Turniere beherrschte als man begann die traditionellen Katas mit eigenen kreativen Formen zu ersetzen und mit Musik vorzutragen. Bekannt wurde der besonders flexible Revolutionär durch seine Serienkicks in Form mehrerer 360-Grad-Drehungen, den „Machine-Gun-Kicks“. Chung spielte in zahlreichen Filmen („Eyes of the Dragon“), die er z.T. selbst produzierte und verfaßte zusammen mit seiner früheren Freundin und Gefährtin aus dem West Coast Demo Team, Cynthia Rothrock“ das Lehrbuch „Andvanced Kicking und Stretching“.
2. Cynthia Rothrock
Die heute weltbekannte Action-Darstellerin („China‘O‘Brian“) war das weibliche Konterpart zu George Chung der amerikanischen Formenszene. In ihrer gesamten Karriere blieb sie ohne Niederlage. Während sie in den Frauenklassen nahezu konkurrenzlos blieb, mußte sie in den siebziger Jahren in den Klassen mit Waffen auch gegen männliche Mitbewerber antreten. Hier gelang ihr das Meisterstück: Sie setzte sich als einzige Frau gegen die Konkurrenten vom starken Geschlecht durch.
3. Mike Bernardo
So wie der Kanadier kann kaum jemand mit dem Bo (Stock) umgehen. Seine Art Waffen-Formen vorzutragen zeigt deutlich, welchem Zweck die fernöstlichen Waffen und Techniken dienen. Man kann sich richtig vorstellen, wie er seine zahllosen imaginären Gegner abserviert. Bernardo ist einer der ganzen wenigen Formenchampions, der mit seinen Darbietungen auch ganz und gar ohne Musik überzeugen kann. Seit zwei Jahren verfolgt er in Los Angeles, Kalifornien eine Schauspielkarriere. Seinen größten Auftritt hatte er bislang an der Seite von Don „the Dragon“ Wilson und Lauren Avedon in „Grid Runners,“ einem Sci-Fi Thriller. Er zaehlt zu den ganz grossen Talenten. Man wird sicher noch viel von ihm hoeren.
4. Jean Frenette
Wer kennt ihn nicht, den „Canadian Tornado“ aus Montreal. Es gibt kaum eine Budo-Großveranstaltung, bei der er mit seiner Kür zu „Staying Alive“ der Bee Gees die Zuschauer nicht von den Sitzen gerissen hätte. Der Gewinn von drei Weltmeistertiteln im Hard-style (1987, 1990, 1992) bei der WAKO und einen Vize-Weltmei-stertitel (1987) in der harten Waffendisziplin machen ihn zum erfolgreichsten Formenläufer im internationalen Vergleich. Als Autor von drei Lehrbüchern und mehreren Lehrvideos ist er weltweit ein Begriff geworden. Nach seinem Rücktritt von aktiven Wettkampf hat er sich dem Aufbau seines eigenen traditionellen Sankudo-Karate-Verbandes (gegr. von Nanbu) verschrieben. Ausserdem bildet Frennet in Kanada Stuntmen fuer Filmproduktionen aus.
5. John Chung
Während die meisten Formenläufer Filmmusik und aktuelle Hits fuer ihre Begleitung wählen, bevorzugte der Taekwondo-Stilist aus Washington die Klassik. Zur Ouvertüre von Beethovens fünfter Sinfonie zeigte er eine legendäre Kata, mit der er über viele Jahre die Turniere an der Ostküste der Staaten gewann. Nach mehreren Hüft-und Knieoperationen hat er bereits 1987 seinen Rücktritt erklärt. Unvergessen: Seine hauchdünne Niederlage gegen Jean Frenette bei der WAKO-WM 1987 in der Münchener Olympiahalle. Chung ist ein direkter Schüler des Grossmeisters Jhoon Rhee, Washington.
6. Carmichael Simon
Heute ist er in den USA der Top-Star auf den großen Turnieren der NASKA.
Über sehr viele Jahre regierte er bei den Junioren die Szene.
Bereits in seinem ersten Jahr in den Erwachsenenklassen gewann er die Grandchampiontitel der ganz großen Turniere.
Nach dem Abschluß des College beabsichtigt er, an die Westküste überzusiedeln und eine Karriere im Filmgeschäft anzustreben wie viele andere Formenchampions es bereits verwirklicht haben.
7. Keith Hirabayashi
Trotz seines zweifachen WM-Gewinns 1987 in der Softstyle und der Waffendisziplin (über Jean Frenette) sowie einiger Filmrollen, erreichte Hirabayashi nie die Beachtung der Fachpresse, die er wirklich verdient hätte. Er ist einer der ganz wenigen Softstyle-Spezialisten, der seine Darbietung der „weichen Kampftechniken“ so effektiv und publikumswirksam darbieten kann, daß er selbst gegen Konkurrenten aus dem Hardstyle bestehen kann. Er arbeitet zur Zeit als Stuntman und Schauspieler in Kalifornien.
8. Kevin Thompson
Kaum jemand trägt seine Formen so knackig vor wie der farbige „Little K.A.“ aus New ´York. Der Wirbelwind von der Ostküste gewann Ende der achtziger Jahre alle großen Turniere. Mit seiner Kama-Form zu Michael Jacksons „Smooth Criminal“ errang er 1990 die Weltmeisterschaft der WAKO. Nach mehrjähriger Wettkampfabstinenz siegte er im letzten Jahr bei großen US-Turnieren. Darüber hinaus zählt er zu den besten Semikontakt-Fightern an der Ostküste der USA. Den grossen Sprung ins Filmgeschaeft wagte er nicht. Kevon Thompson arbeitet hauptberuflich als Schullehrer.
9. Michael Chaturantabut
Zusammen mit Carmichael Simon ist er der neue Star in den USA. 1995 siegte er bei den WAKO-Weltmeisterschaften. Weitere Auftritte bei den Budogala-Veranstaltungen in Deutschland folgten. In diesem Jahr werden neue Auseinandersetzungen mit Simon zeigen, ob er in dieser Rangliste weiter steigen kann.
10. Christine Bannon-Rodriguez
Neben Cynthia Rothrock steht Christine Bannon-Rodriguez aus Rhode Island, USA, als die erfolgreichste Formenkünstlerin ganz oben an der Weltspitze. Die international ungeschlagene, mehrfache Weltmeisterin siegte in den Staaten bei allen großen Turnieren wie US-Open, Battle of Atlanta, Ocean State Nationals, Diamand Nationals und, und, und …
In ihrer Spitzenzeit war sie Mitglied des rennomierten „Atlantic-Oil-Teams“, das unter der Leitung von Chuck Merriman von einem Ölkonzern mit 1,5 Millionen Dollar gesponsort wurde. Zur Zeit arbeitet die Softstylistin und erfolgreiche Semikontakt-Fighterin nach dem Rückzug vom aktiven Wettkampf an der Fernsehserie „WMAC-Masters.“ Ihre ersten Erfahrungen beim Film hat sie vor zwei Jahren erlebt: Sie doubelte unter Anleitung des legendären Kampfchoreographen Pat Johnson („Ninja Turtles“) die Hauptdarstellerin Hilary Swank in „Karate Kid – die neue Generation.“ Die zierliche Christine ist mit Promoter und Sportschulbesitzer Don Rodriguez verheiratet.
Dieser Artikel erschien in der Kick Ausgabe 04/1996.