US Open und Ocean State Nationals 1995

Christine Bannon Rodriguez Christine Bannon Rodriguez

Für viele sind die Vereinigten Staaten ein Traum, so auch für etliche Kampfsportenthusiasten. Sie kommen immer dann ins Schwärmen wenn sie von den großartigen Karate- und Kickboxdarbietungen hören. Was sich insbesondere in der Musikkata und Semikontaktwelt in den USA abspielt, übertrifft europäische Dimensionen um Klassen. Bislang hat es noch kaum ein Europäer geschafft auf der anderen Seite des grossen Teichs zu überzeugen. Unser Mitarbeiter Rüdiger Miller besuchte die großen Turniere an der Ostküste. Hier seine Reportage.

WAKO Germany
WAKO Germany Fighter: Roland Conar, Jürgen Schorn und Maik Böttcher

US-Open

Orlando, Florida

Hitze, erdrückende Luftfeuchtigkeit, Attraktionen im Überfluß und eine hervorragende Organisation, das waren die Charakteristika der US-Open, einem der größten Semikontakt- und Formenturniere im Südosten der Vereinigten Staaten. Wie bereits seit vielen Jahren veranstalteten Mike Sawyer, Mike McCoy und Cory Schäfer Anfang Juli ein perfektes Mammuttunier in der meistbesuchten Touristenstadt des „Sunshine State“ Florida, in Orlando.

Das Convention Center, 1987 Schauplatz des legendären Kickboxfights zwischen Don Wilson und Branko Cikatic, bot den rund 2.000 Teilnehmern und Zuschauern eine Kulisse wie man sie sich z.B. in Europa einfach nicht vorstellen kann. Auf über 30 Kampfflächen begann das Turnier pünktlich um 9.00 Uhr am Morgen mit den Waffen Formen. Es folgten Formen mit und ohne Musik bevor die ersten Semikontakt-Ausscheidungen anfingen. Die Favoriten konnten sich problemlos durchsetzen und siegten in den Finali, die direkt an die Qualifikationskämpfe anknüpften. Zwischendurch wurden die Finale der Formenklassen „ausgekämpft“. Unter den Siegern der einzelnen Divisionen wurden die fünf besten Darsteller ermittelt, die am Abend um den Grandchampiontitel stritten.

Christine Bannon Rodriguez
Christine Bannon Rodriguez

Showtime
Pünktlich 19. Uhr: Showtime! Nachdem Vollkontakt-Opa Bill „Superfoot“ Wallace die ausländischen Teilnehmer mit einer Ehrenplakette auszeichnete, begannen die Grandchampion-Wettbewerbe. Zunächst stritten die Junioren in den Formen um die große Trophäe. Der bislang ungeschlagene Schüler von John Chung (Washington) Kingston Ng setzte seine unglaubliche Serie fort und siegte erneut. Bei den „Kleinen“ siegte in den Waffen die Kalifornierin Casey Marks mit einer eindrucksvollen Bo-Kata vor den zwölfjährigen Jimmy Pham, der im November übrigens bei der Budogala auftreten soll.

Xavier siegt
Weiter ging es mit den Grandchampionfights im Semikontakt. In den leichten Gewichtsklassen sichert sich WAKO Weltmeister Pedro Xavier problemlos Titel und Siegprämie. In den mittelschweren Klassen hatte es Kevin Thompson ein gutes Stück schwerer. Sein Sieg über Joesph Alexander fiel nur sehr knapp aus. In den schweren Klassen siegte Anthony Price, der seinen Kontrahenten gleich zu Beginn des Kampfes mit einem Hook-Kick außer Gefecht setzte. Bei den ganz schwerern Fightern setzte sich zum neunten Mal der farbige Anthony „Mafia“ Holloway an die erste Stelle. Kaum zu erwähnen, die Grandchampionkämpfe der Damen. Die nationale und internationale Elite fehlte in Orlando fast gänzlich. Die recht unbekannten Kämpferinnen und Formenläu-ferinnen boten kaum mehr als nur Mittelmäßiges.
Carmichael Simon besiegt Mike Chat
Der krönende Höhepunkt des Abends bildete der Wettstreit um den Grandchampiontitel der besten Formen- und Waffen-Formen-Darsteller. Alle Größen der US-Szene waren vertreten. Richard Brandon, Jon Valera und Mike Chaturantabut zeigten je zwei atemberaubende Formen, die an Perfektion und Timing kaum zu überbieten waren. So endete der Wettstreit dann auch denkbar knapp nachdem zwei Stechen nötig geworden waren mit einem hauchdünnen Sieg für den Kalifornier Mike Chaturantabut, der mit seiner Kama-Form die Zuschauer mehrmals von den Sitzen riß.

Pokale
Typisch Amerikanische Riesen-Trophies in allen Klassen.

Noch spannender wurde es in der freien Formenklasse. Gabe Reynaga und Rich Brandon wärmten die Zuschauer mit eindrucksvollen Katas aus, bevor Jon Valera als erster eine „Standing Ovation“ erhielt. Doch dann kamen erst die beiden besten amerikanischen Formenläufern, neben denen selbst ein Jean Frenette verblassen würde: Mike Chaturantabut und Carmichel Simon. Letzterer dominierte über die letzten Jahre eindrucksvoll die Juniorklassen. Die US-Open bedeuteten seinen Einstand in der Erwachsenenklasse. Und was für ein Einstand: Mit sagenhaften, blitzschnellen Sprung- und Drehkicks, bei denen er sich um bis zu 540 Grad drehte (eineinhalb Drehungen !), erhielt er Höchstnoten und siegte mit zwei Hundertstel Punkten Vorsprung von seinem neuen Erzrivalen Mike Chat. Carmichel ist somit der unumstrittenen Meister der „Königsklasse der Formen.“
Unter den zahlreichen Teilnehmern befanden sich auch in diesem Jahr Sportler aus Europa. Im Semikontakt kämpften u.a. Roland Conar (Karlsruhe), Maik Böttcher (Hamburg) und Martin Kilgus (Loffenau, WAKO-WM) mit. Sie schieden vor dem Finale aus. Im Formenbereich sicherte sich der junge Österreicher Rüdiger Miller (Rattenberg) den neunten Rang.

Ocean State

Providence, Rhode Island
Gerade mal zwei Wochen nach den US-Open fand in Providence, Rhode Island, das nächste große Turnier in den Vereinigten Staaten statt. WAKO-US-Coach Don Rodriguez und seine Frau Christine Bannon organisierten die 15ten Ocean State Nationals. Auch dieses Turnier bot nicht nur Wettkampf, sondern ein ansprechendes Rahmenprogramm. So fand z.B. am Vortag ein Formenseminar mit dem mehrfachen US-Champion Chris Cassamasa und ein Teamkampf zwischen dem Macho-Team und den Metro-All-Stars statt.
Gut 1.200 Teilnehmer nahmen an diesem prestigeträchtigen Turnier teil. Trotz der hohen Teilnehmerzahl setzten sich zumindest in den Formenklassen mit Richard Branden, Mike Chaturantabut, Carmichel Simon, Kingston Ng, Kevin Thompson und Butch Marks die Favoriten an die Spitze ihrer Divisionen. Anders sah es im Semikontakt aus. Im Leichtgewicht verlor der favorisierte Vorjahressieger Kevin Thompson bereits im zweiten Kampf. Nur wenige Sekunden dauerte das Finale im Mittelgewicht. Nach fünf Sekunden lief Ronald Brady in eine Rechte von WAKO Weltmeister Pedro Xavier und ging schwer K.o. Sieger: Xavier. Im Schwergewicht siegte einmal mehr Anthony „Mafia“ Holloway.
Die Abendveranstaltung fand nicht mehr in der Sporthalle statt, der Ballsaal des Holliday Inn Hotels diente als Austragungsort für die Grandchampionkämpfe und den Showteil, der mit einer Demonstration der siebenfachen Formen- und Semikontakt-Weltmeisterin Christine Bannon-Rodriguez, die trotz ihres Rücktrittes vom aktiven Wettkampf zeigte, daß sie noch zur absoluten Weltspitze im Formenbereich gehört, eröffnet wurde.
Weltklasse im Semikontakt gab es danach in zwei Weltmeisterschaftskämpfen der WAKO Pro in der Klasse bis 84 Kilo und bis 74 Kilo zu sehen. Zunächst war die höhere Gewichtsklasse an der Reihe. Der Weltranglisten-Erste Soltan Szucs aus Ungarn und der Ami John Payton punkteten über fünf Runden um die Wette. Der Ungar wirkte jedoch deulich schwerfälliger und unterlag deutlich nach Punkten. Bis 74 Kilo stritt mit Lajos Hugyetz ein weiterer Ungar um die WM-Krone gegen einen Ami. Chris Rappold mußte dabei schon nach wenigen Sekunden von einem Hook-Kick am Kopf getroffen zu Boden gehen. Im Verlauf des Gefechts blieben beide Akteure stets eng beisammen, die Punktwertungen wechselten ständig. Kurz vor Ende führte der Ungar noch mit einem Punkt, doch dann entschied US-Boy Rappold mit einer Zwei-Punkte-Technik das Gefecht in letzter Sekunde für sich. ­

US Forms Grand Champion
Grossartige Formenläufer wie Mike Chat bei den Grandchampionships in Rhode Island werden spannend bewundert

Als nächstes standen die Grandchampion-Vorführungen der Formensieger auf dem Programm. Sowohl mit als auch ohne Waffen mußte sich der Kalifornier Mike „Chat“ Chaturantabut gegen Richard Branden (Waffen) und Carmichael Simon geschlagen geben. Simon dürfte mit seinem Doppelsieg bei den US-Open und den Ocean State Nationals über Mike Chat deutlich gezeigt haben, daß er zur Zeit die absolute Nummer eins im Formenbereich in den USA, und damit auf der ganzen Welt ist. Europäische Formenfans werden jedoch noch einige Zeit warten müßen, bis sie den US-Star zu sehen bekommen. Während die Nummer zwei Mike Chat bereits im November bei der Budo-Gala zu sehen sein wird, wird man Carmichael Simon voraussichlich erst Ende Februar 1996 als Stargast bei Budoshows und Kickboxgalas zu sehen bekommen (KICK wird berichten, die Verhandlungen laufen noch).
Das große US-Turnier war damit jedoch nicht zu Ende. Abschließend gab es noch einen Vergleichskampf zwischen dem bekanntesten amerikanischen Semikontakt Team um Jean-Paul Mitchell und einer kanadischen Auswahl zu sehen, welchen die US-Boys knapp für sich entscheiden konnten. Nach der Beendigung des sportlichen Wettkampfes ging es zum gemütlichen Teil über. Die Teilnehmer trafen sich zu einer Victory-Party, wo sie bis spät in die Nacht feierten. Auch das Feiern ist eine Besonderheit amerikanscher Turniere, die für Europa nachahmenswert sein dürfte.

Kick Joe Lewis
KICK 12/95 mit Joe Lewis

Diese Reportage erschien in Ausgabe 12/95, der ersten vollfarbigen Ausgabe der Kick Illustrierten. Es war ein exklusiver Beitrag von Rüdiger Miller – damals aktiver Formenläufer und freiberuflicher Journalist.