Ein alternativer Standpunk von David Peterson
Mit monotoner Regelmäßigkeit werden die Leser von Kampfsportbüchern, Journalen und Magazinen mit unterschiedlichen Versionen von legendären Geschichten über die Entstehung unterschiedlicher chinesischer Kampfkünste konfrontiert. Jede Geschichte beginnt mit der Begegnung eines Kriegers mit einer Nonne oder einem Mönch, die sich auf einen tödlichen Kampf einlassen. Irgendwie schafft es der Außenseiter zu obsiegen und man schließt daraus, daß eine neue, überlegene Methode des Kämpfens erfunden wurde.
Der Begründer, bzw. Entwickler steht meist mit dem berühmten Tempel der Shaolin in Verbindung, dem Kloster, das bis heute in der Henan-Provinz besteht, oder der Ruine, die nach Überlieferungen einmal in der Provinz Fujian gestanden haben soll. Durch diese Verbindung wird die Authenzität des Stils nicht in Frage gestellt, denn jedermann glaubt, „was von den Shaolin kommt, muß gut sein.“ Wenn man allen Geschichten glauben würde, müßte jede einzelne Kampfsportart, die ihren Ursprung in China hat, ein sogenannter „Shaolin-Stil“ sein.
In vielen Systemen wird behauptet, daß identische Gründer, bzw. Schlüsselfiguren für die Weise, sich zu verteidigen, verantwortlich waren. Die Praxis, mit dieser Beziehung eine Legitimation herbeizuführen, ist in China nicht unüblich und in allen Gesellschaftsschichten und Geschäftsbeziehungen zu finden. Das bekannteste Beispiel bilden die geheimen Bünde und Vereinigungen wie z.B. der berüchtigte Clan der Triaden. Anders als die kriminellen Gruppierungen, die man bei uns mit diesem Begriff verbindet, waren die Triaden Geheimbünde gegen gemeinsame Gegner. So z.B. um 1890 als die Boxer-Bewegung durch China ging, eine Rebellion verdeckter Organisationen gegen ausländische Besatzer.
Viele der modernen Triaden sind legitime Gruppen, die zum Ziel haben, Chinesen untereinander zu helfen. In Melbourne und Sydney kennt man die Man Ji Dong und Chinese Masonic Gesellschaften, die gesetzestreu solche Ziele verfolgen. Ich bin seit rund 150 Jahren der einzige Nicht-Chinese, der die geheimen Rituale kennt. Nach Überlieferungen gab es den letzten „Gwailo,“ so die Bezeichnung für Fremde, irgendwann im 18. Jahrhundert in Macao. Um an meinen Ausgangspunkt zurückzukommen, führen auch die Triaden ihre Wurzeln auf die Sekte der Shaolin zurück. Genau gesagt, bis ins 17. Jahrhundert als ihr Tempel niederbrannte. Obwohl es keine schriftlichen Überlieferungen gibt, gehen Historiker davon aus, daß das Gebäude durch einen Unfall entzündet wurde. Die Behauptungen, daß es Brandstiftung war, sieht man als ein Anstacheln gegen die unbeliebten Besatzer aus der Mandschurei. Die „Vorfahren“ der Triaden flüchteten in verschiedene Regionen Chinas und begannen, die Menschen zu Rebellen auszubilden.
Natürlich gibt es die weltbekannten kriminellen Triaden. Eine der bekanntesten Gruppen sind die „14K Triaden.“ Auch sie führen aus Glaubwürdigkeitsstreben und den Verlangen Respekt und Furcht zu ernten, die alten Rituale durch. Unglücklicherweise haben die verbrecherischen Triaden so stark an Bedeutung gewonnen, daß sie weltweit den ganzen Stand in Verruf bringen. Es ist nicht unrealistisch, wenn man annimmt, daß alle Entstehungsgeschichten nur Märchen sind. Der Grund für das Erfinden dieser Geschichten ist einfach. Man wollte durch die Verbindung zu einem bereits bestehenden, guten System den Anschein von Seriosität erwecken. Die Chinesen sind sehr geschichts- und traditionsbewußt, dennoch hat ein System mit einer bunten Vergangenheit größere Chancen anerkannt zu werden, als ein neues System, das lediglich eine neue Idee präsentiert.
Die Geschichte des Wing-Chun-Systems – wie die Entstehung aller chinesischen Stile – basiert auf Mythen und Legenden der. Die Legende besagt, daß ein buddhistische Nonne, Ng Mui, einer Gruppe angehörte, die bereits bestehende Kampfsysteme analysieren sollte, um ein neues, schnell erlernbares System zu finden, mit dem man sich gegen feindliche Angreifer zur Wehr setzen kann. Bevor sie ihren Auftrag erfüllen konnte, wurde ihr Kloster bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Da Ng Mui als Frau keinen Zutritt zum Tempel hatte, entging sie glücklich dem tödlichen Schicksal und floh in den Süden. In einigen Geschichten flüchtet sie in die Provinz Sichuan, in anderen nach Fujian. In einer dieser Regionen angekommen, traf sie Yimm Yee Gung, einen Freund und früheren Schüler ihres Meisters, dem Mönch Ji Sin, einen der fünf Weisen der Shaolin.
Kurz zuvor hatte Ng Mui einen Kampf zwischen einer Schlange und einem Kranich beobachtet (andere Sagen sprechen z.B. von einem Kampf zwischen einem Fuchs und einem Kranich, etc.). Aus den Erkenntnissen ihrer Observation war sie in der Lage das langverfolgte Ziel, ein neues Selbstverteidigungssystem zu erschaffen, zu erreichen. Sie brachte diesen Stil der Tochter von Yim Yee Gung, der bildhübschen Yim Wing Chun bei. Der Rest ist Geschichte, oder etwa nicht?!
Laut den Geschichtsbüchern ist praktisch nichts über Yim Wing Chun bekannt. Es gibt nur einen Menschen, der anhand der wahrer Gegebenheiten mit Wing Chun in Verbindung gebracht werden kann, der als Erster das System, das nach Ng Muis Schülerin benannt wurde, unterrichtete. Die Rede ist von Leung Jan, einem Heilkundler aus Fatsaan. Als Kämpfer wurde er Anfang des 19. Jahrhunderts geschätzt. Man sagt, er wurde kein einziges Mal geschlagen. Er unterrichtete nur eine Handvoll Schüler: seine beiden Söhne Leung Chun und Leung Bik sowie Chan Wa Sun. Leung Jan soll seine Kampfkunst von Wong Wa Bo und Leung Yee Dai erlernt haben. Beiden sagte man außerordentliche Fähigkeiten nach. Letzterer war ein bekannter Operndarsteller, der das ganze Land bereist hatte. An diesem Punkt angelangt, will ich meinen alternativen Standpunkt über die Geschichte des Wing Chun darlegen. Wie bereits erwähnt, ist es sehr schwer, wenn jemand mit einer neuen Idee für die Kampfkunst versucht, sie ohne den Bezug zur Geschichte oder bekannten Ereignissen zu behaupten. Um ein wenig abzuschweifen, kann man nicht akzeptieren, daß das ausgeklügelte System des Wing Chun mit seinen fortschrittlichen Ideen einfach von jemanden erfunden wurde. Es ist nur denkbar, daß es wie alle anderen Kampfsportarten, wie z.B. Karate, Boxen, etc. nach einer Entwicklung über mehrere Generationen mit vielen Eingaben und Erfahrungen vieler Individualisten zu dem weltweit bekannten System wurde, für das es entwickelt war.
Die Natur des Systems ist so gestaltet, daß es leicht fällt, zu glauben, daß eine Frau bei der Entwicklung maßgeblich war. Es ist ein sehr logisches, wissenschaftliches System, in den Technik immer über Kraft steht. Die Ökonomie der Bewegung ermöglicht es vor allem kleinen Menschen, damit umzugehen. Ich möchte nicht, daß dies als ein sexistischer Standpunkt mißverstanden wird: Es ist lediglich eine Möglichkeit es zu betrachten. Man sollte nicht außer Acht lassen, daß Leung Yee Dai auf einem Boot lebte und durch China reiste. Wenn man sich die Stände und Bewegungen des Wing Chun genauer anschaut, kann man sich durchaus vorstellen, daß die Umstände auf einem Boot die Entwicklung dieses Stils ermöglichten, weil dort z.B. hohe Sprungkicks nicht sinnvoll sind. Die Techniken Saam Gook Bo und Yi Ji Kim Yeung Ma passen perfekt zu einer Anwendung auf einem Wasserfahrzeug.
Dann gibt es ständig die bekannten Argumente über den Namen des Systems. Wurde es wirklich nach der ersten und einzigen Schülerin von Ng Mui benannt oder gibt es einen anderen Ursprung? Laut zahlreicher berichte über den original Shaolin Tempel gab es eine Halle mit der Bezeichnung Evergreen Halle. Das erste Schriftzeichen war trotz unterschiedlicher Bedeutung gleich in der Aussprache wie der Name Yim Wing Chun. Im Landesinneren Chinas gibt es bis heute noch einen Stil, der genau dieses Schriftzeichen verwendet, und nicht die Form, wie sie durch Hong Kong verbreitet wird. Auch andere Schulen im Süden Chinas nehmen Bezug auf die Evergreen Halle, die sie als die Trainingsstätte der Shaolin bezeichnen. Andere sprechen davon, daß sie der Wohnsitz des Mönches Ji Sin war. Er soll später einen Mischstil erfunden haben, den er entsprechend der Inschrift seiner alten Wohnstätte als Wing Chun bezeichnet haben soll.
Während meiner zahlreichen Aufenthalte in Hong Kong habe ich mit den bekannten Meistern immer wieder Diskussionen über die Geschichte und Entstehung geführt. Unter ihnen findet sich mit Cheng Kwong zumindest einer, der die Wurzeln beim Mönch Ji Sin sieht. Er faßt die Entwicklung von zwei Zweigen zusammen. Seiner Meinung nach wurde bei der Beerdigung von Yim Wing Chun versehentlich eine falsche Grabinschrift angebracht. So hatte ihr Name die Bedeutung „Evergreen“ bekommen und nicht wie in Hong Kong verbreitet wird, „Loblieder auf den Frühling singen.“
Um auf meine Ausgangsposition zurückzukommen, halte ich es für mehr als logisch, die Entwicklung des Systems auf mehrere Leute und einen längeren Zeitraum zu-rückzuführen. Es fällt mir schwer, vorzustellen, daß ein oder zwei Personen innerhalb so kurzer Zeit ein so kompaktes System zusammenstellen können. Mein Lehrer, der bekannte Sifu Wong Shun Leung, meint, daß es wahrscheinlich eine Gruppe von „Gung Fu Fanatikern,“ die mit großem Einfallsreichtum und Erfahrung gepriesen waren, das entwickelten, was er als „Wing Chun Gung Fu“ bezeichnet, und diese Form des Kämpfens von Generation zu Generation verfeinert wurde.
Um seine Ausführungen fortzuführen, erklärte er mir mehr als einmal, daß der bekannte Großmeister Yip Man bis zu einem Interview vor rund 40 Jahren nie einen früheren Urheber des Systems als Leung Jan bezeichnet hat. Man kann es nicht mehr nachvollziehen, aber man sagt, daß Yip Man zu einem Reporter eine etwas ausgeschmückte Version der Geschichte erzählte, welche sich über ein Kampfsportmagazin verbreitete.
Wong Shun Leung vermutet, daß die Menschen an der südöstlichen Küste Chinas diese Kunst weiterentwickelt haben, denn sie haben oft gekämpft und somit die Möglichkeit gehabt, ihre Fertigkeiten ständig voranzutreiben. Durch Zufall habe ich bei der Lektüre eines chinesischen Buches einen weiteres Puzzelstein gefunden: Nördlich der Hafenstadt Xiamen gibt es eine Stadt mit dem Namen Wing Chun mit dem identischen Schriftzeichen wie die Evergreen Halle.
Könnte es sein, daß eine Gruppe von Kämpfern, die eine effektive Kampfform suchen, über mehrere Generationen ihren Stil entwickeln – von Freund zu Freund, von Lehrer zu Schüler, von Vater zu Sohn, etc – bis es relativ weit entwickelt ist und einer von ihnen nach Fatsaan kommt und dort zufällig Leung Jan trifft und ihm die Kunst beibringt? Vielleicht, so meint auch Sifu Wong, waren es Leute, die auf Booten lebten und die Küsten regelmäßig auf und ab tuckerten. Das trifft schließlich auch auf den bekannten Operndarsteller Leung Yee Dai zu, der das Wing Chun erlernte, als er auf einem Boot lebte. Es könnte auch die Herkunft der Stockform im Wing Chun erklären, denn die Bewegungen mit dem Stock zeigen große Ähnlichkeit mit den Ruder- und Paddelbewegungen, die man einsetzt, um in einem der zahlreichen Flußdeltas flußaufwärts zu fahren. Und wie könnte man eine Kunst besser benennen, als nach der Heimat, Wing Chun?
Es ist sehr ungewiß, ob wir jemals die richtige Abstammung des Wing Chun Stils in Erfahrung bringen werden. Dennoch ist es interessant, die unterschiedlichen Möglichkeiten zu kennen. Ungeachtet dieses Streitpunktes stellt das Wing Chun für mich eines der besten Kampfsysteme der Welt dar. Es hat eine kompakte Struktur, hält wissenschaftlichen Kriterien stand und kann auf eine erfolgreiche Geschichte bei den Straßenkämpfen in Hong Kong zurückblicken. Einig ist man sich vor allem darin, daß Großmeister Yip Man das Wing Chun zum Weltruhm führte. Man sollte sich immer an seine wichtige Rolle erinnern. Seine vier original Schüler Leung Seung, Lok Yiu, Tsui Sheung Tin und Wong Shun Leung spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung des Stils.
Wie Wong immer zu sagen pflegt, kenne wir die wahren Urheber des Systems nicht, dennoch ist es unsere Pflicht das Wing Chun zu erhalten und zu überliefern. Wir sollen die Absicht in uns tragen durch unsere Schüler das Wing Chun in neue Regionen vorstoßen zu lassen. Ob es nun eine Nonne war, ein Fischer oder ein Opernschauspieler, die das System erfunden haben, spielt letztlich keine große Rolle. Wichtig ist, daß sich das Wing Chun über Generationen erhalten hat und weiter erhalten wird.
Dieser Beitrag wurde in der zweiten Ausgabe der Kung Fu Illustrierten veröffentlicht. Author: David Peterson.