lm Spätherbst 1988 veranstaltete die seit München wiedervereinigte WAKO (nun „World Association of Kickboxing Organizations“ genannt) ihre im 2-Jahres-Rhythmus stattfindenden Europameisterschaften. Aufgrund der Aufnahme von Leichtkontakt (Durchkämpfen) und Formen in das internationale Sportprogramm entschied man sich die Europameisterschaften an 2 verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Terminen auszurichten, Die Europameisterschaft im Leicht- und Semikontakt fand daher am 5. November 1988 in Mestre, Italien und die Europameisterschaft im Vollkontakt und Formen am 19./20. November 1988 im jugoslawischen Trogir statt.
MESTRE, ITALIEN
Semikontakt: Bei fast allen vorangegangenen Europameisterschaften hatte die bundesdeutsche Semikontakt Equipe als Sieger in der Nationenwertung hervorgehen können. Obwohl man wusste, daB man in Mestre besonders gegen die heimischen Azzuros einen schweren Stand haben würde, Ging man trotzdem voller Zuversicht an den Start. Mit den Weltmeistern Oliver Drexier (-57 Kg) und Robert Ulbrich (-69 Kg), Ex-Weltmeister Andreas Lindemann (-79 Kg), Europameister Ralf Kunzier (-74 Kg) und den Deutschen Meistern Joachim WeiBhard (-:7:2 Kg) und Peter Bernt (-84 Kg) sowie den weiblichen Mitgliedern des Teams Karin Schiller (-50 KG), Barbara Englert (-55 Kg), Ute Howell (-60 Kg) und Sybille Brosig (+60 Kg) rechnete man groBe Chancen für das Semikontakt aus. Aber schon nach den ersten Vorkämpfen bewahrheitete sich die alte Boxerweißheit, daB man in Italien nur durch K.o. gewinnen kann, Da ein K.o. im Semikontakt jedoch zur Disqualifikation führt standen die Chancen selbst für unsere Besten nicht gerade rosig. Bereits in den ersten Vorkämpfen schieden unsere haushohen Favoriten Kunzler, Lindemann und Bernt aus, auch Weisshard und Brosig schieden vorzeitig aus – fast alle gegen Italiener. Karin Schiller konnte den 3. Platz belegen und nur die Weltmeister Oliver Drexler und Robert Ulbrich bei den Herren sowie Barbara Englert und Ute Howell (geb. Bernhard) bei den Damen konnten bis ins Finale vordringen, Hätten alle 4 gewonnen, hätte die bundesdeutsche Mannschaft die Nationenwertung gewonnen, doch unglücklicherweise muBten sie alle im Finale gegen Italiener antreten, Unter dem Beifall von etwa 3,000 begeisterten Zuschauern glänzten die Italiener durch geschicktes Ausnutzen der Regeln. Bevor sie einen Treffer hinnahmen lieBen sie sich lieber zu Boden fallen oder flüchteten im Sauseschritt von der Kampffläche. Die Kampfrichter, die vor der Vergabe eines Minuspunktes erst zwei Verwarnungen aussprechen muBten, waren nahezu machtlos gegen das gezielt unfaire Verhalten der Italiener. So verloren Drexler, Ulbrich und Howell im Finale.
Drexler kämpfte, im Glauben die Finale würden über 3 Runden gehen, im ersten Finalkampf des Abends zunächst taktisch zurückhaltend und lag nach der 2. Runde mit 1:2 bewuBt knapp zurück. Als der Kampfrichter dann den Kampf beendete und den Italiener Cuccu zum Sieger erklärte verstand Drexler die Welt nicht mehr. Offensichtlich hatte der Bundestrainer Dr. Ludger Dietze – wie viele andere nicht um diese Regeländerung gewuBt. Trotz energischer Proteste konnte man das Resultat des Kampfes nicht mehr ändern, Robert Ulbrich verlor seinen Kampf ebenfalls gegen einen Italiener.
Ulbrich versuchte Francesco Arnone immer mit denselben FuBtechniken zu treffen. Arnone stellte sich auf die Situation ein und gewann knapp, Auch Ute Howell verlor ihren Kampf aufgrund ihrer einseitigen Kampfesweise, immer versuchte sie gradlinig anzugreifen und wurde von Roberta Vitali immer wieder ausgekontert. Einzig Barbara Englert aus Hösbach konnte ihr Finale gewinnen. In einem technisch hochklassigen Kampf konnte sie ihre Kontrahentin Sonia Bonazza auf den 2. Platz verweisen.
Leichtkontakt:
Hier sah es für das bundesdeutsche Team schon wesentlich besser aus, den Vorkämpfen schied mit Edgardo Velasco (-69 Kg) nur ein Deutscher aus. Enttäuschend war alleine das Ausscheiden von Andreas Lindemann (-79 Kg) im Halbfinale gegen den späteren Sieger George McKenzie aus England. Mit Jürgen Jakob (-57 Kg), Axel Briesenich (- 63 Kg), Ralf Kunzler (-74 Kg), Karl-Heinz Martin (-84 Kg) und Gerald Hellmann (+84 Kg) gelangten immerhin 5 Deutsche his ins Finale.
Gerald Hellmann mußte sich dem Briten Raymond McKenzie knapp Geschlagen geben, Karl-Heinz Martin, von seinen Teamkamaraden liebevoll „Charlie“ genannt, gewann seinen Finalkampf gegen den Ungarn Barnabas Katona zwar nur knapp aber verdient. Damit erkämpfte sich der symphatische Augsburger, der im Semikontakt bislang immer im Schatten von Peter Bernt gestanden hatte, schon in seinem 1, internationalen Einsatz den Titel des Europameisters. Ralf Kunzler schlug im Finale den Ungarn Lajos Hugyetz. Kunzler ging ungewohnt verspannt in diesen Kampf und fand zu keinem Zeitpunkt zu seinem gewohnten Kampfstil, konnte aber dennoch siegen und weiterhin ohne jegliche Niederlage im Leichtkontakt bleiben. Axel Briesenich aus Wolfsburg, der für den verletzten Michael Kuhr einsprang, konnte trotz einer Niederlage im Finale Gegen den Italiener Silvano Cosentino überzeugen. Der Mannheimer Jürgen Jakob bestritt gegen den Italiener Gianni Morigi den letzten Finalkampf des Abends. Jakob und Morigi kommen beide aus dem Vollkontakt Lager und gingen von Anfang an richtig zur Sache, was ihnen schon bald Verwarnungen einbrachte. Im Grossen und Ganzen verlief der Kampf ausgeglichen, so daß man vermuten konnte, daß einmal mehr ein Italiener gesiegt hatte, doch diesmal entschieden sich die Punktrichter richtig: Sieger wurde Jürgen Jakob, der sich über diesen Titelgewinn ganz besonders freute. Fazit: Trotz einiger Unstimmigkeiten der Offiziellen und des unfairen „italienischen Kampfstils“ war diese Europameisterschaft ein groBer Erfolg, Die Leistungsdichte auf internationaler Ebene hat bei der WAKO stark zugenommen und lag weit über dem Niveau der neugegründeten, konkurrierenden IAKSA. Von den insgesamt 17 teilnehmenden Nationen schnitten Italien, England und die Bundesrepublik am besten ab. Erstaunlich schnitten die Ungarischen Sportler ab, die Platz 4 der Nationenwertung beleaten, Erstaunlich schlecht schnitt ein anderes Ostblockland ab: Polen. Dies war weniger mit den Leistungen der Polen zu begründen als vielmehr mit der Tatsache, daß einige polnische Kickboxer es bei vorangegangenen internationalen Vergleichskämpfen vorzogen nicht mehr in ihr Heimatland zurückzukehren, so daß die WAKO-Polen diesmal nur wenige Sportler ins Ausland entsenden durfte.
TROGIR, JUGOSLAWIEN
Vollkontakt: Unter der Leitung von Ferdinand Mack und Werner Soßna reiBte das bundesdeutsche Vollkontakt Team nach Jugoslawien, Die Erwartungen lagen im Vollkontakt nicht so hoch wie im Semikontakt, bestand das bundesdeutsche Team doch größtenteils aus international unerfahrenen Kämpfern. Schon im 1. Vorkampf schieden Klemens Willner (-63,5 Kg), Edgardo Velasco (-69 Kg), Gerd Dittrich (-71 Kg) und Stefan Hoffmann (-91 Kg) aus. Jürgen Jakob (-57 Kg) muBte sich nach einem krassen Fehlurteil der Punktrichter dem Briten Darren Clark im Halbfinale geschlagen geben und belegte nur Platz 3, Ebenfalls den 3. Platz belegte Ex-Weltmeister Michael Kuhr (-60 Kg), der durch eine Fußverletzung benachteiligt, wie in München dem Italiener Massimo Ulissi unterlegen war. Zur Überraschung aller Zuschauer und Beteiligten konnte Ulissi aber nicht den Titel des Europameisters mit nach Italien nehmen, Im Finale unterlag er dem farbigen Briten Eivis Parsley durch einen klassischen K.o. Mit Ex-Weltmeister Gabriel Damm (-54 Kg) und Georg Hartig (-75 Kg) gelangten nur 2 Deutsche bis ins Finale. Damm mußte im Finale gegen den gut austrainierten Ungarn Oscar Ballogh antreten, der all seine Vorkämpfe in souveräner Weise gewonnen hatte. Damm hatte bereits während der Vorkämpfe groBe Probleme das richtige Timing für seine sonst so präzisen und kraftvollen Techniken zu finden. Gegen Ballogh versuchte er daher durch zurückhaltendes Kämpfen möglichst wenig Schwächen zu zeigen um dann im richtigen Moment zuschlagen zu können, was ihm jedoch nicht gelang. Er verlor seinen Kampf klar nach Punkten. Der 2. bundesdeutsche Finalist war Georg Hartig, der eigentlich nur Ersatzmann für den zuerst nominierten Andreas Lindemann war. Eigentlich hätte Hartig gar nicht ins Finale kommen dürfen, denn sein Punktsieg über den Schweizer Tiziano Ubaldi im Halbfinale beruhte ebenso wie Jakobs Niederlage auf einem krassen Fehlurteil der Punktrichter. Im Finale hingegen gab Hartig sein Bestes und gewann gegen den Griechen Anthanasios Voulgaritis nach Punkten und holte somit die einzige Goldmedaille nach Deutschland. Als bester Kämpfer der Veranstaltung galt nach Übereinkunft der meisten Fachkundigen der Ungar Janos Gonzczi, der in der Gewichtsklasse bis 63,5 Kg Europameister wurde, in seinen Vorkämpfen schlug er u.a. den Deutschen Meister Klemens Willner aus Berlin.
Resultate WAKO European Championships Trogir, 1988
Formen:
Nach 1984 (Graz) veranstaltete die WAKO zum 2. Mai eine Europameisterchaft in den Formenwettbewerben, die in die Kategorien Hardstyle, Softstyle und Waffen unterteilt waren, Sieger in der Hardstyle Kategorie wurde der Deutsche Meister Jens Richter aus Duisburg, der mit großem Abstand vor der Konkurrenz aus England und Italien siegte. In der Waffen Kategorie belegte der Österreicher Weinhold den 1. Platz. Insgesamt wurde bei den Formenwettbewerben ein Niveau gezeigt, daß vielleicht die teilnehmenden Sportler zufriedenstellte, jedoch weit hinter den Leistungen der amerikanischen Konkurrenz zurückbleibt. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Die Europameisterschaft im Vollkontakt blieb hinter den eigentlichen Erwartungen zuruck. Zum einen lag das an der Tatsache, daß viele international erfahrene Kämpfer 1987 bei der WM in München ihre Karriere beendeten (Hiereth, Novengy, u.a.) oder nach der Gründung der PKO ins Profilager umstiegen (Mack, Dimitroff, Piotrowski, Rahilou, u.a.) und der WAKO nicht mehr zur Verfügung standen.Zum anderen war der jugoslawische Verband mit der Ausrichtung der Europameisterschaft finanziell überfordert, so daß die Sieger statt der obligatorischen Trophäen nur mit Medaillen geehrt wurden. Ausserdem wurden wie im Vorjahr bei der WM in München verhältnismäßig viele Fehlurteile gefällt. Diesmal jedoch entschloß man sich diesem Mißstand abhelfen zu wollen und künftig die Vorkämpfe über die Distanz von drei Runden anzusetzen. Damit hofft man den Punktrichtern, die jede Runde einzeln bewerten müssen, ihre Arbeit erleichtern zu können.