Als Kampfsport-Schüler machen wir uns oft zu Sklaven, in dem wir versuchen, uns dem Stil, den wir trainieren, anzupassen. Als Schwarzgurte versklaven wir dann die Techniken, indem wir sie unseren Bedürfnissen und Fähigkeiten anpassen. Am Anfang dienen wir dem Stil, um ihn am Ende uns dienen zu lassen. So wie Flexibilität nötig ist, um hoch kicken zu können, braucht man Flexibilität im Kopf, um sich dem Treten richtig nähern zu können. Der Rundtritt, der im Training unterrichtet wird, mag gut funktionieren, doch muß man verstehen, daß durch die verschiedenen Drehungen und Winkel zu einem Basistritt 20 Variationen entstehen können. Viele Schüler verwenden viel Zeit und Energie darauf, einige Techniken zu lernen, manche werden sie sogar ganz gut beherrschen.
Schneller Kicken durch langsames Training – oder: „Kicken im Rhythmus des Kampfes“ von John Graden, USA
Viel wichtiger ist es jedoch, einige Techniken auszuwählen und diese richtig zu beherrschen. Dann kann man nämlich, anstelle vieler wirkungsloser Tritte bei dem einen bleiben, der zu einem paßt, diesen aber in verschiedenen Variationen ausführen. Eine der legendären Karate-Geschichten handelt von Joe Lewis`erstem Turnier. Er war gerade von seiner Militärzeit auf Okinawa zurück, wo er innerhalb von sieben Monaten seinen Schwarzgurt erreichte, als er an den Jhoon Rhee Nationals 1967 teilnahm. Nachdem er die Kataklasse gewonnen hatte, ging er an die Kampffläche. Da er die Regeln noch nicht kannte, wurde er einmal getroffen – das einzige mal an diesem Tag. Als er verstanden hatte, daß derjenige, der zuerst trifft, den Punkt bekommt, hat er die Top-Kämpfer Amerikas ausgepunktet, ohne noch einmal getroffen zu werden. Diese Leistung ist noch beeindruckender, wenn man bedenkt, daß der damalige Newcomer nur eine einzige Technik, den Side-Kick, verwendet hat. Er erklärte später: „Ich habe ihn nur nie zweimal auf die gleiche Art gemacht.“ Obwohl es hier um einen anderen Kick geht, bleibt das Prinzip doch das gleiche. Es ist deutlich einfacher, den gleichen Kick in 20 Variationen zu lernen, als 20 verschiedene Kicks. Was hier beschrieben wird, ist das Geheimnis der amerikanischen Spitzenkämpfer wie. Von Bill Wallace bis Joe Lewis ist die Meisterschaft der Grundtechniken der Schlüssel zum Erfolg. Wie kann es sein, daß Wallace’s Gegner, obwohl sie genau wußten, daß er sie mit dem Rundtritt zum Kopf treffen würde oder daß Lewis seinen Side-Kick in ihre rippen rammen wollte, diese Techniken nicht blocken konnten? Viele behaupten, die Jungs seien einfach so schnell gewesen, und in einem gewissen Maß stimmt das auch. Wie auch immer, um schneller zu werden, müssen Techniken in sequenzen unterteilt werden.
Die Elemente der Schnelligkeit bei einem Angriff
1.: Die einleitende Bewegung: Ihr Erfolg hängt davon ab, ob ihr Grundprinzip beachtet wird. Wenn das Grundprinzip eines Kicks beschrieben werden soll, spricht man von harten und weichen, lockeren und explosiven, aggressiven oder passiven Tritten. In diesem Fall geht es darum, sehr explosive Beinarbeit in Kombination mit blitzartigem hochreißen des tretenden Beins in die Trittposition. Je schneller unsere einleitende Bewegung, umso schwieriger ist es für den Gegner, zu reagieren. So wie ein Sprinter aus dem Startblock herausexplodiert, so muß ein Kämpfer aus den Blocks seines Gegners herausexplodieren. Sprinter trainieren ihre Startbewegungen stundenlang, obwohl sie niemenden haben, der sie mit einem Knockout motiviert.
Schnelligkeit in Stundenkilometern
Die Frage ist, wie lange es dauert, einen Tritt auszufahren und wieder zurückzuziehen. Das kann man verbessern, wenn man sich auf schnelles Treten und zurückschnappen konzentriert, als auf Durchschlagkraft. Wenn das Schnappen verbessert wird, nimmt die Kraft zu.
Einsatz
Hier gibt es die größten Unterschiede: Wie viel Hingabe steckt hinter Ihrem Kick? Es mag der schönste, schnellste und härteste Kick sein, aber wenn er nicht trifft, ist er nutzlos. Ich erinnere mich an die Weltmeisterschaften 1985 in London (WAKO), als ich davon beeindruckt war, wie die Europäer sich mit wunderschönen Kicks aufwärmten. Ihre Kicks sahen super aus, aber viele flogen in der ersten Runde raus, weil die Techniken so korrekt waren, daß man sie sofort kommen sah. Sie hatte wenige Variationen, weil sie mehr Zeit damit verbracht hatten, ihre Kicks im Spiegel anzuschauen, als auf Ziele zu treten, die zurückschlagen. Manche messen die Geschwindigkeit ihrer Kicks mit elektronischen Geräten. Für mich ist eine Technik schnell genug, wenn sie ihr ziel erreicht. Das ist, was zählt. Es muß nicht immer blitzschnell oder explosiv sein. Manchmal ist es sogar besser, langsamer zu sein. Wer so ist wie ich, und dessen Name nie mit Schnelligkeit in Verbindung gebracht wurde, der kann mit Faktoren wie Hingabe und Reichweite viel ausgleichen. Dabei geht es vor allem um die Bewegung. Stell dir einen geparkten Wagen vor, der plötzlich beginnt, sich zu bewegen, und droht, dich zu überfahren. Du erkennst den Wechsel von stillstand zu aggressiver Bewegung. Stell dir nun vor, der Wagen beschleunigt plötzlich auf 60 Stundenkilometer. Dann wird er dich viel schneller erreichen, und das ist es, worum es hier geht: Wie können wir die Lücke zu unserem Gegner schließen, ohne daß es ihm richtig bewußt ist. Gute Beinarbeit ist dafür unersetzlich. Leider verbringen viele zuviel Zeit vor dem Spiegel, sich selbst dabei zu bewundern, wie sie bilderbuchmäßig kicken, anstatt zu üben, wie sie den Kick ins Ziel bekommen. Das führt dazu, daß sie, wenn sie nach vielleicht fünf Jahren ihren Schwarzgurt bekommen, 200 Stunden lang Techniken geübt haben, aber nur zehn Stunden an ihrer Beinarbeit gefeilt haben, um mit der Technik, für die sie so geschwitzt haben, auch zu punkten. Nur wenn ein Kick neu gelernt wird, darf das statisch geschehen, ansonsten, bewegt euch. Beinarbeit macht Spaß. Sie kann auch ermüdend sein, aber Karate, das hat mit Disziplin zu tun. Eine disziplinierte Person weiß, was zu tun ist, und dann tut sie es. Eine undisziplinierte Person weiß, was getan werden sollte, tut es aber nicht. Wofür entscheidet ihr euch? Die oben genannten Qualitäten beinhalten mehr als nur Bewegung: Täuschen könnte ein eigenes Kapitel füllen.
Technische Finten, Körperfinten, Bewegungsfinten und Rhythmusänderungen beeinflussen auch die Geschwindigkeit eines Angriffs.
Wenn man beispielsweise bei einem Rundtritt den Winkel des angezogenen Beins ändert, ändert sich auch der Rhythmus und der Winkel des Tritts. Wenn ich meinen Kick seitlich oder sogar hinten hochziehe, gebe ich meinem Gegner viel Zeit zu reagieren. Auch wenn es unsinnig erscheinen mag, trete ich gerne ein- oder zweimal aus solch einer Position, um dann das nächste mal in einer kürzeren Distanz meinen Kick ins Ziel schnellen zu lassen. Selbst wenn mein Bein sich beim letzten Kick genauso schnell bewegt, brauche ich für den Kick halb so viel Zeit. Trotzdem ist er nicht so erfolgreich, wenn nicht vorher ein längerer, leichter zu erkennender Kickrhythmus angesetzt wurde. Das ist Timing. Es geht nicht darum, die Technik zu ändern, sondern die Anwendung. Der Kick wurde nicht schneller, und doch hatte der Gegner weniger Zeit, zu reagieren. Ich habe ihn auf „langsam“ programmiert und dann mein Spiel geändert.
Das Funktioniert aber genauso gut anders herum:
Ich schieße ein paar tiefe, kurze und schnelle Tritte, um den auf sehr schnelle Techniken und kurze Reaktionszeiten einzustimmen. Dann lade ich den Kick seitlich oder hinten und trete ihn in einer sauberen horizontalen Linie. Sein Block wird zu schnell in Position sein, und er wird ihn auch zu früh wieder zurück nehmen. Und dann –
Whamm – schlägt mein längerer Kick ein.
All dies erfordert ein wenig Kreativität und Vorstellungskraft. Passt auf, damit ihr nicht eine einseitige Vorstellung von dem bekommt, was im Kampf passiert. Die meisten Trainer unterrichten das, was sie von ihren Trainern gelernt haben, und das ist eine gute Basis. Aber ebenso wie es keinen Stil gibt, der alles beinhaltet und kein Trainer alles weiß, gibt es keinen besten Weg, einen Kick zu machen. Oft ist der beste Kämpfer der mit den unnormalsten Techniken. Mit einem kleinen Wenig Arbeit könnt ihr euren Kampfstil effektiver machen und sogar schneller werden, wenn ihr eure Techniken langsamer ausführt.
John Graden leitet heute die Martial Arts Teacher Association, eine amerikanische Organisation fuer professionelle Kampfsportschulen. Zuvor begründete er die NAPMA und leitete eine Kette von Karate Schulen in West-Florida: USA Karate. Er gewann 1985 den Titel des Vize-Weltmeisters im Vollkontakt Kickboxen, WAKO, in London England. John coachte mehrere Spitzensportler in seinen Sportschulen, u.a. WAKO Weltmeister Kathy Marlor und seine Brüder Mark Graden und Jim Graden, die beide ebenfalls als Karatelehrer arbeiten.
Dieser Artikel erschien in der Kick Ausgabe 04/1996.