Yip Chun in Darmstadt

Yip Chun DWCV Yip Chun erhält zum Abschluß ein Gastgeschenk aus den Händen einer DWCV-Schülerin. Es handelt sich dabei um einen wertvollen geschliffenen Marmorstein.
Yip Chun DWCV
Yip Chun erhält zum Abschluß ein Gastgeschenk aus den Händen einer DWCV-Schülerin. Es handelt sich dabei um einen wertvollen geschliffenen Marmorstein.

Hoher Besuch aus Hong Kong: Man kennt es aus allen fernöstlichen Kampfstilen: Wenn die großen Meister aus dem Osten kommen, versinken die Sportler in Ehrfurcht. Im Wing Chun gab es dazu noch keine Gelegenheit, denn die wahren, alten Meister kamen bislang noch nie nach Deutschland. Yip Chun, 73, ist der erste seiner Sippe, der in die Bundesrepublik reiste, um selbst das Wing Chun in Deutschland nach den echten Lehren seines bekannten Vaters Yip Man zu verbreiten. Wir waren dabei – hier unsere Eindrücke

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Yip Chun Germany
Yip Cun demonstriert Chi-Sao-Übungen mit Samuel Kwok (re.). Zwischenfragen beantwortet er stets.

Man muß sich im Wing Chun nur ein wenig auskennen, um zu wissen, daß die Lehrgänge des Chinesen Yip Chun Anfang März 1997 in Köln und Darmstadt eine Sensation in der Kampfkunstgemeinde darstellen. Warum, wird der eine oder andere unbedarft fragen. Die Antwort ist klar: Bislang kursierte das Gerücht, daß fernöstliche Meister ungemein verschlossen gegenüber Weißen, besonders Europäern, sind, und nur dann bereit sind, ihr Wissen mit anderen zu teilen, wenn ein besonderes Vertrauensverhältnis entstanden ist. Darüber hinaus erzählte man sich, daß die greisen Chinesen ohnehin nicht alles zeigen würden, da die dritte Form und die Holzpuppenform Techniken enthalten kann, deren wahrer Wert nur einem besonders elitären Kreis zugänglich sein soll.

Für Chun war es selbstverständlich: Er zeigte die komplette Holzpuppenform – vor einigen Jahren galt diese noch als geheim.

Wer nach Köln oder Darmstadt gekommen war, zeigte sich überrascht von Yip Chuns Offenheit. Der 73-jährige, einer von zwei Söhnen des legendären Großmeisters Yip Man, durch den (und dessen Schüler Bruce Lee) das Kampfsystem weltweit bekannt wurde, zeigte sich nicht nur für sein Alter besonders vital, sondern unerwartet offen und diskussionsbereit. Die Teilnehmer konnten Fragen stellen, wenn ihnen etwas nicht klar war. Sogar filmen und fotografiert ließ sich Chun. Dabei gab es niemand, der verhindern wollte, daß unbequeme Fragen nicht gestellt wurden. Chun hatte immer eine passende Antwort. Ging es um technische Belange der Kampfkunst, antwortete er kompetent. Bei den be-liebten politischen Fragen entgegnete er ehrlich, obgleich er sich meist sehr diplomatisch aus der Affäre zog. Wer mag es ihm verdenken, schließlich stehen nicht nur menschliche, sondern auch wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel.

Meister Yip Chun zeigte zum Erstaunen der Teilnehmer die meisten Übungen selbst. Auch das hatten viele nicht erwartet. Es sind viele Fälle bekannt, in denen ein Meisterseminar so aussieht, daß der Assistent alles zeigt, während der große Meister ruhig auf einem Küchenstuhl sitzt und nach dem Rechten schaut. Nicht bei Yip Chun. Er ließ es sich nicht nehmen, die Formen des Systems zu demonstrieren und die Anwendungen der einzelnen Techniken mit Partner darzustellen. Zum Abschluß des Seminars zeigte er sogar die vollständige Holzpuppenform, ein wahrer Leckerbissen für alle Freunde des Wing Chun Systems. Unterstützt wurde er bei den Lehrgängen von seinem Meisterschüler und Assistenten Samuel Kwok, selbst ein erfahrener Meister des Stils und ein bekannter Buchautor.

Das Teilnehmerfeld rekrutierte sich primär aus den Mitgliedern der EWCO und DWCV, zwei unabhängigen deutschen Wing Chun Organisationen. Auch von anderen Verbänden kamen Teilnehmer. Man fand sogar einige Kampfkünstler, die sich bislang überhaupt nicht mit dem Wing Chung auseinandergesetzt hatten, unter den Teilnehmern. Sie wollten einfach nur mal den alten Meister kennenlernen, um sich davon zu überzeugen, ob denn auch alles so stimmt, was man es über ihn schreibt.
Für die Wing Chun Freunde war es ein großes und bedeutendes Ereignis. Für neutrale Interessierte geriet es zu einer enorm aufschlußreichen Begegnung. Nach Chuns Besuch hat man ein anderes Bild von ihm und dem System. Auf der einen Seite mag man vielleicht ein wenig enttäuscht (Kenner würden „enttäuscht“ schreiben) sein, denn Chun ist kein Kämpfertyp. Er sieht Wing Chun als ein Werkzeug, sich gesund zu halten und sich charakterlich zu entwickeln, wobei man lernt, sich zu verteidigen, wenn es unbedingt darauf ankommt. Er ist also kein unbesiegbarer Altchinese, eine Mischung aus Mike Tyson, Royce Gracie und Rob Kaman, nur kleiner und mit Schlitzaugen und gelber Haut. Nein, er ist ein Mann, der die Lehren des Wing Chun kennt und sie trotz seines hohen Alters in bemerkenswerter Form in die Realität umsetzt. Er ist offen, witzig und sprüht vor Lebensfreude. Sein Enthusiasmus springt sofort auf andere über, und so manch einer der älteren Seminarteilnehmer, wird hoffnungsvoll vor sich hingeträumt haben: „Hoffentlich bin ich auch noch so fit, wenn ich einmal so alt werde.“

Die Organisatoren:

Reiner Günther (li) und Klaus Fillbrandt (re.) freuen sich über den großen Erfolg: Sie haben die ersten Seminare mit Yip Chun in Deutschland auf die Beine gestellt. Beide entwuchsen einst einem großen deutschen Kampfkunstverband, wobei sie sich in den letzten Jahren in die wirtschaftliche und Kung-Fu-politische Unabhängigkeit begeben haben. Gegen starken Widerstand von wirtschaftlich orientierten Organisationen haben Günther in Köln und Fillbrant in Darmstadt die Lehrgänge mit Chun organisiert. Weitere Veranstaltungen sollen im Herbst folgen. Mit durchschnittlich 80 Teilnehmern können sie für die Premiere zufrieden sein. „Wäre nicht das Gerücht kursiert, Yip Chun würde auf Bitten eines Geschäftsmannes, seine Seminare absagen, wären bestimmt mehr Leute gekommen,“ kommentiert Fillbrandt die diversen Verbandsstreitigkeiten in der Szene, die bislang einem Zusstandekommen ähnlicher Seminare im Weg gestanden haben.

Samurai Magazin Bill Wallace
Samurai Magazin 02/1997

Diese Wing Chung Reportage wurde in der Samurai Ausgabe 02/97 veröffentlicht. Vielen Dank für die Hilfe und Mitwirkung von Samuel Kwok, der als Übersetzer zur Verfügung stand sowie den Organisatoren Reiner Günther und Klaus Fillbrandt.

Offizielle Homepage: Ving Tsun Athletic Association, Hong Kong