Traditionelles Wing Chun mit Randy Williams

Ted Wong

Randy Williams Kung FuIn den Kung Fu Stilen – insbesondere im Wing Chun – gibt es viele unterschiedliche Auffassung von Tradition und Technik. Alleine die unterschiedlichen Schreibweisen der Stile sind Indiz genug um diese Aussage zu belegen. Während in Europa die meisten Organisationen immer einen Lehrer aus dem alten, sagenumwobenen Hong Kong als Meister für ihr eigenes Können als Refernz vorweisen, zählt dies in Amerika nur wenig. Dort zählt die tatsächliche Effektivität der Anwendung, deren Erlernbarkeit und Möglichkeiten des Einsatzes. Mit Randy Williams kam im Herbst 1995 erstmals ein großer amerikanischer Meisterkönner auf Einladung von Wolfgang Polzin für Seminare nach Deutschland.

Wir ergriffen die Gelegenheit und führten mit dem symphatischen Vertreter eines überarbeiteten, traditionellen Wing Chuns ein exklusives Interview. Lesen Sie im folgenden den ersten Teil dieses Interviews, das unser Mitarbeiter Stefan Billen in September 1995 in Duisburg führte.

KICK: Wann und wie sind Sie mit dem Kampfsport in Verbindung gekommen ?

Williams: Durch meinen Vater, der halb Chinese, halb Amerikaner ist, bin ich damit in Verbindung gekommen. Er hatte im Vietnamkrieg viel Kampfsport gelernt, und so brachte er es mir bei. Während die anderen Kinder Baseball und Fußball spielten, lernte ich Kicks und Handtechniken. Was ich damals lernte kann man wohl eher mit Thai- und Kickboxen vergleichen. Ich hatte den Bogen raus, wie man schlagen und zutreten konnte, und ich konnte mich damit verteidigen. Später interessierte ich mich mehr für das Wushu. Als ich ein Teenager war lebten wir Los Angeles. Ich hatte öfters in Chinatown zu tun. In der Nähe eines Geschäftes hing ein großer Sandsack, den ich bei jedem Vorbeigehen ein wenig bearbeitete. Als ich einmal länger trainierte, sah ich, daß ein alter Chinese mich beobachtete. Er kam auf mich zu, und forderte mich auf, ihn anzugriefen. Ich zögerte zunächst, denn ich war eher ein schüchternen, zurückhaltender Junge. Doch er forderte mich erneut auf, und ich griff an. Er verteidigte sich erfolgreich mit einer Technik, die ich heute als die Wing Chun Technik Lap-Sau kenne. Ich war überrascht. Er forderte mich auf, ihn mit weiteren Techniken anzugreifen. Und es geschah dasselbe. Ich wurde neugierig, und fragte ihn, ob ich die Techniken von ihm lernen könnte, doch er sagte nein. Er sagte, es sei Wing Chun Kung Fu, und er können es nur an andere Chinesen weitergeben. Ich erklärte ihm, daß mein Vater Halbchinese sei. Dann willigte er ein. Er stellte jedoch eine Bedingung auf: Ich müsse Chinesisch lernen. Ich ging also zur Schule und lernte die Grundbegriffe, um von ihm zu lernen.

Chi Sao mit Sifu Ted Wong, einem Schüler von Bruce Lee

KICK: Wie alt waren Sie damals ?



Williams: Ich war gerade mal 13 Jahre alt. Er lehrte mir Techniken bis ich 27 war. Sein Name war Yau Kwak Chaw. Er zeigte mir alles, bis auf die Waffen. Nun, er zeigte mir, wie man mit Waffen umgehen konnte. Die Formen konnte er mir jedoch nicht beibringen. Eines Tages sagte er mir, daß er mir nicht mehr zeigen konnte, und daß er nach China zurückkehren würde. Er nannte mir einen Freund in Arizona, bei dem ich die Waffentechniken erlernen konnte. So fuhr ich nach Arizona und begann bei Augustine Fong zu trainieren. Er hatte eine besonders wissenschaftliche Anschauung und Trainingsweise, und so konnte ich nicht nur die Waffenformen von ihm lernen, sondern auch das Wing Chun, das ich von Yau erlernt habe, verfeinern. Das ging aber nur eine Weile gut, denn wie bei vielen Trainer/ Schüler-Verhälnissen zwischen Chinesen und Amerikanern kam es irgendwann zum Bruch. Der Grund dafür lag darin, daß ich ein Buch geschrieben habe. Ich wußte, daß auch er an einem Buch arbeitete und so schlug ich ihm vor, daß ich mein Buch produzieren würde und ich ihn bei seinem Buch unterstützen würde. Ich bot ihm an, da ich ein gelernter Drucker war, sein Buch bis zur Fertigstellung zu betreuen und die Fehler aus meinem eigenen Werk zu vermeiden. Er war begeistert. Als ich ihm mein Buch zugeschickt habe, endete unsere Beziehung abrupt. Ich hörte nur noch, daß er auf einmal schlecht über mich redete. Wahrscheinlich war er nur überrascht über die gute Qualität meines Buches, das er wohl nicht übertreffen konnte. Schließlich hatte ich alles direkt von ihm gelernt und vor Drucklegung alle Quellen überprüft.

Kung Fu Inside Magazin
Randy zierte schon öfter die Cover von US Magazinen

KICK: Zeigen und trainieren Sie einen besonders traditionellen Wing Chun Stil oder fließen weitere Elemente in Technik und Anwendung ein ?

Williams: Ich lehre traditionelles Wing Chun, so wie es mir überliefert wurde. Aber ich selbst habe einige neue Sachen eingebracht, neue Übungen zum Beispiel. Dennoch beruht alles auf den Prinzipien des Stils. Meine Übungen resultieren aus gängigen (Straßen)Kampfsituationen und den dazu passenden Antworten aus den Wing Chun. Ich überlege, wie man mit Wing Chun einen Angriff parrieren kann, wie man kontert, und zwar so, daß man weitere Angriffe dabei nicht zuläßt. Sicher ist das nicht mehr das gleiche Wing Chun wie es das vor 300 Jahren gewesen ist. Es ist eine sehr junge Kampfkunst. Wenn ich solange und so gründlich Medizin studiert hätte wie Wing Chun, dann wäre ich heute ein Gehirnchirurg. An diesem Punkt angelangt, denke ich, daß ich mindestens genauso qualifiziert bin, Wing Chun zu lehren, wie die alten Meister des Systems. Ich betrachte mich als jemand, der das Gesicht des Wing Chun aufpoliert und es in die neunziger Jahre transferiert. Es gibt keine Wissenschaft, die sich rückwärts bewegt. In anderen Worten: Würden Sie sich von einem Arzt behandeln lassen, der über einen Wissensstand von vor 300 Jahren verfügt ? Ich bin nicht sicher, daß wir auf jeden Fall besser sind, als ein Wing Chun Meister vor 200 Jahren, doch wir müssen sehen, daß wir heute andere Realitäten vorfinden als damals. Würde die Begründerin des Systems ihre Kunst heute noch genauso entwickeln wie vor 300 Jahren. Würde sie das, wenn sie einmal Mike Tyson beim Boxen zugesehen hat ? Sie hat nie einen verzweifelten Drogensüchtigen in den Slums von Chicago um sein Leben kämpfen sehen. Sehen Sie, wir haben ganz andere Voraussetzungen für die Anwendung. Ich denke, daß Wing Chun sich weiterentwickelt. Ich lehre traditionelle Formen und traditionelle Techniken, doch in der Anwendung gehe ich einen Schritt weiter.

Randy spezialisiert sich auf Close Range Combat

KICK: Viele Kämpfe enden am Boden. Mit all ihrer langjährigen Erfahrung, benutzen sie Wing Chun Techniken für diese Form der Auseinandersetzung oder ziehen Sie andere Systeme, wie z.B. das Jiu Jitsu, herbei ?

Williams: Oh, nein. Ich habe nichts von anderen Stilen. Es ist reines Wing Chun. Ich will nicht sagen, daß Wing Chun anderen Stilen überlegen ist, oder andere Stile dem Wing Chun unterlegen sind. Das mache ich nicht. Ich betreibe Wing Chun und nichts anderes. Wir haben eigene Anwendungen für den Kampf am Boden. Es gibt dabei sicher Ähnlichkeiten mit anderen Stilen. Eine davon ist die Tatsache, daß man am Boden liegend eher zum eigenen Körper hin als davon weg schlägt. Der große Unterschied zu anderen Stilen ist jedoch, daß wir im Wing Chun Bodenkampf vor allem den Boden als Waffe benutzen. Wir versuchen die Körperteile, mit denen sich der Gegner abstützt, zu treffen, um ihn dadurch auf den Boden fallen zu lassen, wobei er sich dann verletzen kann. Streng genommen handelt es sich bei den Bewegungsabläufen um die Anwendungsprinzipien des Stockkampfes.

KICK: Wenden Sie in Ihrem Training Methoden aus dem Kickboxen oder Jeet Kune Do an? Machen Sie z.B. Sparring mit Schutzausrüstung ?

Randy Williams Wing Chun

Williams: Nein. Ich habe Kung Fu als eine Form der Selbstverteidigung erlernt. Als Selbstverteidigung versteht man dabei, seinen Körper vor Schaden zu schützen, u.a. auch vor Krankheiten. Man weiß, daß es nicht gut für den Körper und vor allem für den Kopf ist, ständig getroffen zu werden. Wenn ich täglich trainiere und ich werde jedesmal am Kopf getroffen, dann heißt daß ich werde insgesamt 365 Mal im Jahr am Kopf getroffen. Wenn ich mich jetzt auf der Straße prügeln muß, werde ich vielleicht nur zehn Mal am Kopf getroffen. Im Training üben wir die Schlagkraft am Dummy und am Sandsack. Bei den Partnerübungen steht die Kontrolle über die Technik an erster Stelle. Natürlich kommt es schon mal vor, daß jemand getroffen wir, solche Sachen passieren einfach, jedoch nicht mit Absicht.

Den zweiten Teil des Interviews veröffentlichen wir in der kommenden Ausgabe.

Kick 02/95 Herb Perez

Dieses Interview erschien in Ausgabe 02 / 1996. Das Interview führte Stefan Billen. Harry Wong und Ted Wong waren Fotopartner beim Shooting.