Der Weg vom Newcomer zum Champion ist im bezahlten Faustkampf besonders hart. Nur mit viel Talent, der Fähigkeit Einstecken zu können und einem guten Rückhalt durch Trainer, Manager und Veranstalter hat man überhaupt eine Chance, ganz oben anzukommen. Daß ein guter Amateurboxer von einer Karriere im Lager seiner bezahlten Kollegen träumt ist verständlich. Vielmehr als seinen Amateurstatus hat er schließlich nicht zu verlieren. Besonders viel Mut muß man für den Schritt, als Boxer neu anzufangen, haben, wenn man vorher in einer anderen Sportart an der Weltspitze mitgefightet hat.
Profi-Kickbox-Weltmeister Thomas Seiler steht im Boxen vor dem Durchbruch
Der Offenburger Thomas Seiler war schon vor vielen Jahren eines der ersten deutschen Aushängeschilder für den Kickboxsport in der Republik. Seiler gewann 1991 nach dem Berliner Michael Kuhr als zweiter Deutscher überhaupt einen Weltmeistertitel bei einem Profi-Verband. Zuvor hatte er sich mit seinem unbarmherzigen Kampfstil Deutsche und Europäische Meistergürtel geholt. Danach folgte eine weiterer WM-Gürtel in einer höheren Gewichtsklasse, sogar ein Fight um die Weltmeisterschaft im Thaiboxen bestritt er im fernen Japan.
Alles erreicht: Als Kickboxer hat er alles erreicht, was es zu erreichen gibt, sofern man das von den Titeln sagen kann, denn so richtig blickt heute selbst der versierteste Insider nicht durch den Wirrwarr von Titeln und Verbänden hindurch. Viele seiner Gegner waren hochklassig, folglich auch seine Fights. Und die wenigen Kämpfe, die er verloren hat, waren keine Niederlagen, für die er sich schämen müßte. Nur Ausnahmekämpfer vom Schlage eines Gilbert Ballentine oder eines Murath Cömert konnten den WKA-Weltmeister in die Schranken weisen.
Die Faszination im Ring zu stehen
Zum Kampfsport gekommen war er schon in frühen Jahren. Nachdem ihm die Bruce Lee Filme so gefielen, begann er als Siebenjähriger mit dem traditionellen Shotakan Karate, das er bis kurz vor die Dan-Prüfung ausübte. Mit dem japanischen Stil hörte er abrupt auf, als er seinen ersten Kickboxkampf absolvierte, für den er sogar seine Dan-Prüfung absagte. „Die Faszination, im Ring zu stehen,“ war es, was ihn, einen Jungen aus seiner Schar von sieben Kindern in der Familie, am Kickboxen faszinierte. Er blieb bei der neuen Disziplin, und begann, Kontakte zu anderen Sportschulen aufzubauen. Er trainierte u.a. bei Jürgen Lutz in Karlsruhe und bei Detlev Türnau im Rheinland. Selbst weite Reisen nach Frankreich und Holland schreckten ihn nicht, sich weiterzubilden und Erfahrungen zu sammeln. Mit der Zeit begann er mit der Unterstützung von Freunden und der Familie eine eigene Sportschule aufzubauen und selbst Veranstaltungen auf die Beine zu stellen.
Priorität Boxen
Der Schritt zum Profiboxen war für ihn dennoch keine große Entscheidung, denn er will weiterhin als Kickboxer für Titelkämpfe in den Ring steigen. Lediglich die Priorität hat für ihn zugunsten des Faustkampfs gewechselt, denn hier ist der Wettkampf um einiges härter als im Kickboxen, oder zumindest ist die Leistungsdichte erheblich höher. Außerdem spielt der wirtschaftliche Aspekt eine nicht allzu geringe Rolle, denn bei den Veranstaltungen der Sauerland Promotion können schon in kurzer Zeit erheblich höhere Gagen herausspringen als bei seinen Kämpfen für die verschiedenen Kickbox-Organisationen.
Publikumsliebling
Der Grund für seine großen Erfolgsaussichten im neuen Metier liegt wie auch bei seiner alten Disziplin in seinem Kampfstil. Wenn der Crowdpleaser Thomas Seiler in den Ring steigt, bedeutet es für das Publikum: Jetzt gibt es einen guten Kampf. Für Tommi, wie ihn seine Freunde liebevoll nennen, gibt es kein zurück. Er fightet und kann einiges einstecken. Dabei ist er kein Hau-Drauf-Typ, obwohl es ihm sicher nicht an der Schlagkraft mangelt. „Ich kämpfe auf einen Punktsieg hin,“ erklärt er seinen Stil. „Doch wenn ich merke, daß ich meinen Gegner unter Druck setzten kann, dann mache ich das. Der K.o. kommt ganz allein.“
Bundesligaeinsätze
Er hat 72 Kämpfe im Lager der Amateure bestritten, kämpfte u.a. für CSC Frankfurt in der Bundesliga und erreichte den Titel des Badischen Meisters. Hier blieb sein großer Erfolg jedoch aus, was vor allem daran lag, daß er ein sogenannter langsamer Starter ist, und die ersten beiden Runden gerne „verschläft.“ Da Amateurkämpfe in der Regel nur über drei Runden gehen, fand er gegenüber seinen gewohnten langrundigen Kickboxkämpfen keine optimale Basis. Darüber hinaus bestritt er diese Kämpfe zu einer Zeit, als die Amateurbox-Funktionäre nur ungern sahen, daß Kickboxer, die zum Teil schon Profierfahrung hatten, an ihren Turnieren teilnahmen und gewannen. So zumindest erklärt er sich einige umstrittene Punktniederlagen. In dieser Sache steht er nicht allein da. Viele andere Kickboxer, die beim Amateurboxen Fuß fassen wollten, wie z.B. Ferdinand Mack und Michael Kuhr, ereilte dasselbe Schicksal. Doch als Profi hat er bessere Chancen. Das gesteht auch die „Konkurrenz“ der Amateurboxer neidlos ein. Der Vizepräsident des Deutschen Amateurboxverbandes Heinz Birkle urteilte über die Erfolgsaussichten des Offenburgers sehr positiv. Anläßlich einer Pressekonferenz sagte er nach Seilers ersten Profikämpfen: „Seiler hat bei den Profis größere Chancen (als bei den Amateuren). Er hat durch seine Kickboxkämpfe eine hervorragende Kondition und er kann gut einstecken. Außerdem kann er es sich jetzt leisten, es langsam angehen zu lassen.“
Kämpfen mit Kalkül
Wenn es nach Thomas Seiler gegangen wäre, hätte er den Amateurboxern schon viel früher den Rücken gekehrt, und bei den Profis gekämpft. Vor rund fünf Jahren traf er den Matchmaker der Sauerland-Promotion, Jean-Marcel Nartz, um sich mit ihm über einen möglichen Einstieg ins Lager der Profis zu unterhalten. Nartz reit ihm davon ab, Profi zu werden, denn die Aussichten für leichtgewichtige Boxer waren nicht gerade rosig. Dazu kam, daß sich der Profizirkus in der „Vor-Maske-Ära“ in einer tiefen Krise befand. Die Gagen waren gering, das Zuschauerinteresse nur mäßig und die Medien behandelten den Sport nur stiefmütterlich, wenn überhaupt.
Weitere Erfahrungen: So boxte der junge Offenburger weiter in der Bundesliga. Daß sein Kampfrekord aus dieser Zeit nicht der beste ist, liegt vor allem daran, daß er mit vielen hochklassigen internationalen Champions die Fäuste kreuzen mußte, die zum Teil ein vielfaches seiner Kampferfahrung vorweisen konnten, und somit zu früh an zu große Aufgaben herangeführt wurde.
Rückkampf um IDM
Im Profiboxen ist sein Rekord bislang tadellos. In seinen vier Profipaarungen hat er drei Mal den Ring als Sieger verlassen. Den vorerst letzten Kampf im Vorprogramm des medienträchtigen Maske-Eggerton-WM-Fights beendete er mit einem Unentschieden. Anfangs war der 28-Jährige, der seit kurzem vom bekannten Profitrainer Enno Wehrle betreut wird, ein wenig enttäuscht über das Resultat, doch im Rahmenprogramm zum Megafight Maske-Rocchigiani soll er eine neue Chance bekommen, dieses Ergebnis zu seinen Gunsten zu korrigieren. Was an diesem Kampf so wichtig scheint, ist der Titel des internationalen Deutschen Meisters, den Seiler dem Titelhalter Sentürk Özdemir aus Berlin entreißen will. Mit dem Gewinn dieses Titels könnte für ihn eine entscheidende Weiche in Richtung EM-Fight und einer Vermarktung als Hauptkämpfer bei TV-Übertragungen bedeuten. Von da an dürfte auch ein WM-Kampf nicht allzu weit entfernt sein. Hinzu kommt, daß das Super-Federgewicht (-59,8 Kg) eine sehr attraktive Gewichtsklasse ist, in der in den USA enorm hohe Gagen gezahlt werden.
Mit seinen Erfolgen im Boxsport steigt auch sein „Marktwert“ im Kickboxen. Ein Rückkampf mit Gilbert Ballentine oder ein Vollkontakt-Match mit US-Boy Troy Dorsey dürften sicher ein begeistertes Publikum ziehen.
Dieses Porträt wurde in der Ausgabe Juli 1995 veröffentlicht und steht hier als identische Kopie online. Die Fotos wurden freundlicherweise von Klaus Stahl auf Offenburg zur Verfügung gestellt. Seilers kompletter Kampfrekord als Profiboxer kann hier eingesehen werden: Boxing Rec Com.