Reflexkampf

Würgegriff

In der Fachpresse wird seit einigen Monaten ein Video über „Reflexkampf“ angeboten. Der Autor Volker Kunkel offeriert ein System, das wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung zur Grundlage nimmt. Körpereigene Reflexe werden als natürliche Abwehrmaßnahmen für Selbstverteidigungssituationen eingesetzt. Wir haben Volker Kunkel, 36, gebeten, unseren Leser die Ansätze seines Systems in zwei Teilen vorzustellen.
Ausführungen:

Seit dem Erscheinen meines Videos über Reflexkampf werde ich immer wieder gefragt, was das besondere daran sei, und ich antworte ehrlich: nichts! Werde ich aber gefragt, was es von anderen Kampfarten unterscheidet, muß ich genauso ehrlich sagen: fast alles! Wie kommt es zu diesem Widerspruch?

Würgegriff

Wenn ich mir einen Eindruck über den Selbstverteidigungswert einer Kampftechnik oder gar eines Systems verschaffen will, stelle ich einfache Fragen. Meine Fragen sind : Funktioniert es mit und gegen Waffen? In Angriff und Verteidigung? Im Stand und am Boden? In der Bewegung, z.B. rennend? Gegen Schläge, Triffe, Würfe und Griffe? In oder gegen Gruppen? Mit Gepäck, z.B. mit Rucksack? In Matsch, Schnee oder Wasser? Bei Dunkelheit? Ohne Training? Bei Verletzung, z.B. mit Arm- oder Beinbruch (kann schnell passieren!)? Sie sagen, das ist zuviel verlangt? Sagen sie das nicht mir, sondern beschweren Sie sich beim Ernstfall, der alle diese Formen annimmt. Diese Fragen sind nicht künstlich konstruiert. Alles schon erlebt!
Ich weiß nicht, was sie trainieren. Aber ich weiß, daß alle Kampfkunstsysteme, die ich in meinem Leben kennengelernt habe (und ich beschäftige mich damit seit 30 Jahren), Mängel aufweisen, die im Ernstfall verheerend sein können. Auch wenn ich persönlich nicht alle Systeme als gleich gut ansehe (sie haben das Recht, dies anders zu sehen!), so sind sie deshalb nicht etwa gleich schlecht. Sie sind vielmehr spezialisiert. Und Spezialisierung hat einen Preis: den Verlust von Anwendungsbreite.

Dieser Satz gilt auch umgekehrt: Breite Anwendung heißt Verzicht auf Spezialisierung. Dies ist sowohl eine Energie- wie auch eine Zeitfrage. Und genau zu dieser Erkenntnis kam ich nach bereits mehr als zehn Jahren Kamptkunst- und Selbstverteidigungs-Training. Diese Erkenntnis wurde die Basis von Reflexkampf. Ich suchte nach einer Möglichkeit, dieser „Spezialisierungs-Falle“ zu entrinnen, und ich fand sie: Es ist die Rückbesinnung auf die angeborenen, instinktiven Bewegungsmuster des menschlichen Körpers und seine Reflexe.
Was ist darunter zu verstehen? Laufen, Springen und Greifen sind die Grundbewegungen, die jeder Mensch von klein auf lernt und übt. Was auch immer Sie im Laufe ihres Lebens an speziellen Bewegungen lernen, so sind die gerade genannten Bewegungen und ihre Beherrschung Grundlage dafür. Darüber hinaus können Sie viel spezielle Bewegungen lernen. Die Zeit, die sie dafür verwenden, reicht selbst ansatzweise nicht an die Zeit heran, in der sie Gehen, Springen und Greifen „trainiert“ haben, nämlich ihr ganzes Leben.

Selbstschutz
In typischen Verteidigungssituationen empfindet man Abneigung gegen seinen Angreifer: Die Gefühle Ekel, Angst und Schmerz kommen auf.

Das gleiche gilt für Reflexe. Unter einem Reflex versteht man naturwissenschaftlich einen „unwillkürlich und regelhaft ablaufenden Vorgang als Antwort auf einen Reiz“ (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 254. Aufl.,1982, S.1008 ff). Uns interessieren hier im Hinblick auf Selbstverteidigung die sogenannten „bedingten Reflexe,“ bei denen der Reflex durch einen von außen kommenden Reiz ausgelöst wird, z.B. der Meidreflex bei Kontakt mit einem heißen Ofen, oder das Abducken bei einem schnell anfliegenden Stein, oder ein Griff zum Geländer bei Ausrutschen auf der Treppe. Obwohl die Auslöser völlig unterschiedlich sind – im ersten Fall Hitze, übertragen durch die Haut der Finger, im zweiten Fall ein Blickkontakt, im dritten Fall die Fußsohlen und das Innenohr als „Wasserwaage,“ so erfolgt der Reflex als Antwort immer sofort, unwillkürlich und regelhaft. Diese Reflexe stehen wie ein Erste Hilfe-Set als Antwort des Körpers und der Sinne bei Gefahr zu Verfügung. Insofern werden alle Personen, egal welcher Rasse, Geschlecht und Kultur in diesen Situationen prinzipiell die gleichen Verhaltensmuster zeigen. Selbst ein Affe oder eine Katze wird sich dabei prinzipiell nicht anders verhalten.
Wir wollen an dieser Stelle nicht in eine tiefere Diskussion über den Be-griff „Reflex“ einsteigen, weil sie zum einen schon an anderen Stellen geleistet wurde, z.B. von K. Kernspecht in seinem Buch „Vom Zweikampf,“ zum anderen uns hier gar nicht zu interessieren braucht (z.B. ob und welche Reflexe angeboren oder erst in der Kindheit erworben sind). Für uns im Kampfkunstbereich reicht ein funktionaler Reflexbegriff: Jede Bewegung, die angeregt durch einen Reiz körperlicher oder seelischgeistiger Art sofort, unwillkürlich (d.h. ohne bewußte und gewollte Entscheidung, denn die wäre willkürlich) und regelhaft abläuft, ist ein Reflex. Dies bietet uns die Möglichkeit, die natürlichen Bewegungsmuster des Menschen, „Angreifen,“ Gehen, Laufen und Springen als kombinierte und koordinierte Bewegungen unter den Reflexbegriff zu fassen, sofern sie den genannten Bedingungen entsprechen, also auf einen Reiz hin ablaufen (dies ist z.B. die Grundlage aller „klebenden“ und „steckenden“ Hände).

Und wenn Sie mir bis hier gefolgt sind, werden Sie mir noch zwei Schritte weiter folgen können:

1.) daß jede Reaktion umso schneller und sicherer abläuft, je näher sie am Reflex ist. Schneller wird sie deshalb, weil jede Abweichung von der reflexhaft ablaufenden Grundbewegung eine Verzögerung mit sich bringt, und sie wird sicherer, weil die Grundbewegungen für den Körper einfach und häufig auszuführen sind, weil seit frühester Kindheit bekannt. Daraus ergibt sich:

2.) daß die schnellste und sicherste Reaktion der Reflex „pur“ sein müßte. Unterstellen wir, daß dem so ist, dann bleibt nur noch die Frage offen: Wie kommen wir ohne Täuschung ran an den Reflex?

Und genau hier helfen uns drei Faktoren zuverlässig weiter, die im Sportkampf mit Schutzausrüstung oder im technischen Training kaum Beachtung finden, aber im Ernstfall eine Warnlampe für Gefahr darstellen: Es sind Ekel, Angst und Schmerz.

Wenn sie sich im Ernstfall verteidigen müssen, haben Sie fast immer, z.T. lange, bevor es zu einer körperlichen Aktion kommt, ein Gefühl von Über- oder Unterlegenheit gegenüber ihrem Gegner, normal Unterlegenheit, denn genauso umgekehrt fühlt sich der Angreifer meist überlegen. Fühlen sie sich unterlegen, werden sie sich zurückziehen wollen, denn sie wollen ja nicht am Ende „unten“ liegen: Genau dies heißt „unterlegen sein“ wörtlich, so wie der Überlegene in einem Zweikampf am Ende „über“ mir „liegt.“ Das Gefühl, das uns diese Warnung gibt, bezeichnen wir als Angst. Das Wort „Angst“ wiederum hängt sprachlich mit dem Wort „eng“ zusammen. Wo es „eng“ wird für einen Menschen, bekommt er „Angst!“

Hört man nicht auf seine Angst, kann es schnell schmerzhaft werden. Wer nicht hören will, muß fühlen“)! Schmerz als Körperempfindung ist die dritte, massive Warnlampe, die laut Plan der Natur Körperschaden verhindern soll . Vermutlich noch früher wird Ihnen der Angreifer unsympathisch oder gar ekelhaft erscheinen. Antipathie oder Ekel wären das erste Warnsignal, das den beiden anderen vorausgeht und im Vorfeld einer körperlichen Auseinandersetzung durchaus zu beachten ist (Sie können den anderen nicht „riechen“!). Sofern man diesen drei Faktoren ausreichend Beachtung schenkt, wird die technische Antwort auf einen Angriff, also ob und was für ein System ich benutze, zweit- oder sogar drittrangig, da die vorhergehenden Entscheidungsebenen bereits Vorgaben machen, die nicht korrigierbar sind (Beispiel: Sie entschließen sich wegzulaufen statt zu kämpfen. In diesem Fall spielt es überhaupt keine Rolle, ob Sie Karate oder Sambo trainieren.)

Uns interessieren Angst und Schmerz als ehrliche Wegweiser zur reflexhaften Reaktion. Ent-sprechend unserem revolutionären Anspruch haben wir auch eine revolutionäre Arbeitsmethode gewählt, um dem Reflex auf die Spur zu kommen.
Wir haben verschiedene Personen einem Überraschungsangriff ausgesetzt, um eine unmittelbare, nicht planbare Reaktion zu erhalten und diese ausgewertet. Die Ergebnisse unserer Auswertung werden wir im zweiten Teil unserer Reportage, die in der kommenden Ausgabe von KICK erscheint, veröffentlichen.


Diese Reportage entstammt der KICK Ausgabe 1996 / 12. Text und Bild: Horst Kalcher.