Georg Brückner Kolumne 1976

Georg Brückner Georg Brückner mit den ersten Protektoren der Marke Jhoon Rhee.

Siegt die Vernunft?
Liebe Leser – Liebe Sportfreunde:
Der Herausgeber dieses Karate-Journals, Herr Jean D. Nouailhac, hat mir angetragen, in einer ständigen Kolumne meine Meinung zum Thema Karate Sport zum Ausdruck zu bringen. Hiervon mochte ich natürlich mit Freude Gebrauch machen.

Georg Brückner
Georg Brückner mit den ersten Protektoren der Marke Jhoon Rhee.

Vielleicht haben Sie schon von mir gehört oder lesen jetzt zum erstenmal von mir. In eigener Person würde ich mich folgendermaßen vorstellen: Ich gehöre zweifellos zu den Menschen, die nicht einfach hinnehmen, was angeblich seit ewiger Zeit als unantastbare Weisheit gilt. Ich neige auch nicht zu der Vermessenheit, einem bestimmten System oder einer etablierten Organisation bedingungslos den Vorrang zu geben. Ich liebe Karate als Sport und nicht als starres System. Ich bin für den Fortschritt. Ein bißchen Rebell, ein bißchen Revolutionär. Meine Hoffnung gipfelt in dem Wunsch, daß die Frucht der Erkenntnis eines Tages auch all denjenigen die Augen öffnet, die sie heute noch vor der Wahrheit verschließen. Meine ersten Zeilen sollen jedoch an den Mann gerichtet sein, der uns dieses Forum ermöglicht hat. Es gehört schon Mut dazu, ein anspruchsvolles Magazin in solchem Umfang auf den Markt zu bringen. Aber der Mut zum Risiko für eine gute Sache ist eben das Besondere, das Pioniere eines echten Fortschritts auszeichnet. Schon nach wenigen Ausgaben zeigt sich das ganze Format einer großen Zeitschrift, die in ihrer Aufmachung, dem Aufwand, der weltweiten Information und ganz besonders als neutrales Forum eine Möglichkeit der Kommunikation geschaffen hat, wie es sie in unserem Sprachraum bisher noch nicht gegeben hat. Endlich wird das Sportgeschehen nicht mehr nur einseitig dargestellt. Endlich erfahren wir, was in unserem Lande und in der Welt wirklich vor sich geht. Und endlich ist die Zeit vorbei, da der Karate-Sport nur ein kümmerliches Schattendasein in einem artfremden, sterilen und einfallslosen Fachblatt führen durfte. Dafür herzlichen Dank, cher Monsieur Nouailhac! Ein Schritt in die Freiheit, ein Schritt in die Zukunft. Möge er dazu dienen, daß sich alle ein bißchen näherkommen, daß wir uns alle etwas besser verstehen und kennenlernen und nicht zuletzt, daß wir andere Meinungen auch respektieren. Andere Meinungen, das heißt zu begreifen, daß es nicht nur ein Karate, ein Taekwon Do oder ein Kung Fu gibt Es gibt so viele Systeme und Organisationen auf der Welt, die praktisch niemand mehr genau übersehen kann. Und es ist leider eine Tatsache, daß weder in den Ursprungsländern noch irgendwo sonst auf der Welt zwischen den Systemen und Organisationen Einigkeit herrscht oder auch nur nennenswerte Beziehungen bestehen. Wenn man bedenkt, daß die traditionellen Systeme alle auf der gleichen Grundlage beruhen und sich im Prinzip nur durch ihre unterschiedlichen Auffassungen unterscheiden, dann muß man sich unwillkürlich fragen, warum bis heute weder Anzeichen noch Bereitschaft erkennbar sind, einen gemeinsamen Nenner zu suchen. Ich glaube sicher, daß sich dieser Schritt in Asien nicht vollziehen läßt. Ich glaube, daß nur die westliche Welt in der Lage ist, unvoreingenommen ans Werk zu gehen. Es wäre ja auch nicht das erste Mal, daß ein Sport von anderen zu einer Höhe geführt wird oder im Wettbewerb mit anderen zusammen eine Entwicklung erfährt, der von seinem Frühstadium ein großes Stück entfernt erst richtige Bedeutung erlangt. Denken Sie mal an das Turnen vom Urvater Jahn, und sehen Sie dann die unglaublichen Leistungen selbst kleiner Mädchen von heute. Ich habe seit vielen Jahren enge Kontakte mit den USA. Und ich kann Ihnen nur sagen, daß es mir genauso erging wie kürzlich Dominique Valera und einigen anderen aufgeschlossenen Europäern. Ich habe auf meinen Reisen durch Amerika Tausende von Sportlern gesehen, die mit Karate-, Taekwon Do- und Kung Fu-Techniken einen faszinierenden Wirbel von unglaublicher Brillanz und ästhetischer Schönheit boten. Nicht nur die technische Perfektion, sondern auch das leichte, lockere und gleichzeitig dynamische Kampfverhalten war eine für mich bis dahin unbekannte Dimension. Das war weit mehr, als ich bisher vom Karate und Taekwon Do kannte. Ein System aller Stile von eleganter Beweglichkeit, voller Logik und atemberaubender Spannung.


Diese Glosse erschien in der Erstausgabe des Karate Journals 1976.