Plötzlich explodiert ein ganzes Gebäude und geht in Flammen auf. Man hört die Menschenmenge, die sich draußen versammelt hat vor Entsetzen aufschreien. Wo ist unser Held? Die Menge erstarrt in Schweigen, als ein sich bewegendes Flammenbündel vom obersten Stockwerk fällt, auf einem Baldachin landet, zu Boden rollt und schließlich auf sie zutaumelt. Kann das möglich sein? Ja! Unser Held ist dem Inferno entkommen und konnte das Belastungsmaterial unbeschädigt retten. Der böse Bube wandert ins Gefängnis und alle können glücklich und zufrieden weiterleben. So geht ein typischer Tag im Leben eines Stuntmans zu Ende. Feuer, Stürze, schnelle Ferraris und wilde Kämpfe sind ganz normale Bestandteile des Jobs. Wer aber sind diese tapferen Seelen, die sich Tag für Tag kopfüber in die Gefahr stürzen? Um das zu erfahren, haben wir für sie mit dem bekannten Stuntman Steven Ito gesprochen.
FEUER
IN DER SEELE
KRAFT IM KÖRPER
Wenn sie ein Fan von Actionfilmen sind, haben sie Ito sicher schon ein paar hundert Tode sterben sehen! Er wurde erschossen, erstochen, von Gebäuden, Autos und Motorrädern gestürzt. In einer unvergeßlichen Szene von „Showdown in Little Tokyo“, beging er sogar Selbstmord, indem er sich, nachdem er von der Polizei geschnappt worden war, selber das Genick brach. Ito war in vielen der besten Kampfkunst-Filme zu sehen, wie z.B. in „Rapid Fire,“ „Showdown in Little Tokyo,“ „Kickboxer II,“ „Perfect Weapon,“ „Cage II“, „Rising Sun“, „Mortal Kombat“ und „Best of the Best III“.
Risiko und Angst
Man könnte meinen, daß Menschen, die sich für ein derart gefährliches und risikoreiches Leben entschieden haben, jenseits jeder Angst sind und sich somit von den „normalen“ Menschen vollkommen unterscheiden. Ito räumt jedoch ein, daß dies nicht immer den Tatsachen entspricht. „Als ich jünger war, hatte ich gewaltige Höhenangst“ gibt Ito zu. „Als ich das erste Mal hoch hinaufklettern mußte, kam ich fast um vor Angst. Doch das ist jetzt vorbei. Ich glaube, ohne die Kampfkünste hätte ich das niemals geschafft.“ Vor kurzem mußte er einen neun Meter hohen Mast hochklettern und wurde dabei von einem Feuerball verfolgt. Wie war es möglich, die Höhenangst zu überwinden und einen derartigen Stunt zu drehen? „Konzentriere dich und mache es einfach!“ antwortet er. „Ich habe gelernt, das umzusetzen, was ich in meiner Kampfkunst trainiert habe. Konzentration.“ Die Fähigkeit, sich der Herausforderung mit der mentalen Einstellung eines Kampfkünstlers zu stellen, half ihm dabei, seine Angst zu überwinden.
Frühes Kampfsport-Training
Steven Ito wußte schon früh, daß er Stuntman werden wollte – inspiriert von den dynamischen Filmen Bruce Lees. Sein Vater war ein Anhänger der körperlichen Fitneß und seine Onkel waren Judo-Kämpfer. Durch diese Einflüsse führte Ito schon in jungen Jahren ein aktives Leben und übte in seiner High School-Zeit in Los Angeles viele Sportarten, wie z.B. Football und Wrestling aus. Im Alter von 13 Jahren begann er in der U.S. Aikido Akademie in Los Angeles mit Okinawan Shorinryu Karate und Aikido seine Ausbildung in den Kampfkünsten. Fasziniert davon lernte er anschließend Taekwondo und blieb auf dieser Schule bis sie einige Jahre später geschlossen wurde. Darüber hinaus verbrachte er noch ein Jahr in Dan Inosantos Jeet Kune Do/Kali Akademie.
Als Ito begann, im Filmgeschäft zu arbeiten, wurde ihm klar, wie lebenswichtig scharfe, klare Kicks waren. Da ihn der Kick-Stil des Taekwondo-Meisters Hee Il Cho schon immer beeindruckt hatte, beschloß er, Chos Taekwondo-Studio im Westen von Los Angeles zu besuchen. Ito war von Chos genialer Kampfkunst begeistert. Er verbesserte nicht nur seine Kicks, sondern er drang auch tiefer in die Lehre des Taekwondo vor. Er errang den schwarzen Gürtel und blieb schließlich als Lehrer bei Meister Cho.
Die Stuntarbeit begann durch einem Zufall
Itos erste Begegnung mit der Stuntarbeit war reiner Zufall. Er kam das erste Mal damit in Berührung, als er einige aktive Stuntmen kennenlernte und mit ihnen regelmäßig zusammenarbeitete, um Fertigkeiten, die für die Stunts elementar waren, zu perfektionieren. Sie experimentierten mit verschiedenen Sturzvarianten: Zweimann-Stürze, Stürze mit Waffen, Drehungen etc. Mit der Zeit verwandelte sich Itos Angst in Erregung. Stürze aus großen Höhen waren ganz fundamentale Fähigkeiten, doch Ito spürte, daß zu der Stuntarbeit noch mehr gehörte. Er begann, die Herausforderungen zu genießen und von einer Karriere im Actionfilm-Genre zu träumen. Durch seinen Ehrgeiz, sein Training und seine athletische Qualifikation gelang es ihm, ein Profi auf diesem Gebiet zu werden und seine Träume wahr werden zu lassen.
Hoher Leistungsdruck – Vielseitigkeit ist gefragt
Es gehört zum Repertoire eines qualifizierten Stuntmans, geschickt mit Motorrädern, Ski, Jet-Ski, Gymnastik, Pferden, Tauchgeräten und sogar Roller Skates umgehen zu können. Das sind Fähigkeiten, die jederzeit bei Dreharbeiten benötigt werden können. Ito beherrscht all diese Fertigkeiten und noch viele mehr. Er ist stets daran interessiert, neue Sportarten auszuprobieren – ein Muß in diesem Job, in dem man ständig an neue Grenzen gerät. Stuntmen sind Abenteurer: sie brauchen neue Spannungsmomente, wie andere Menschen das Wasser zum Leben. Zwischen dem Alltag eines Stuntmans und dem Alltag eines Normalbürgers liegen Welten.
Ein ganz normaler Tag im Leben eines Stuntmans beginnt schon früh am Morgen mit dem Training. Wenn Ito das Haus verläßt, um zu den Dreharbeiten ins Studio zu gehen, hat er bereits Jogging und eine Stunde Calisthenics hinter sich. An drehfreien Tagen findet man ihn mit Sicherheit im Karatestudio oder in der Trainingshalle, wo er zwei bis drei Stunden trainiert. Er übt sieben Tage die Woche, um seine Reaktionen messerscharf zu halten. Er ist davon überzeugt, da? es nur so möglich ist, in Form zu bleiben, da man stets auf einen Einsatz vorbereitet sein muß. Darüber hinaus senkt ein kontinuierliches Training die Verletzungsgefahr – ein Risiko, das in diesem Bereich ständig vorhanden ist. Für einen Stuntman ist es unerläßlich, seinen Körper in Hochform zu halten.
Langer Anlauf für kurze Szenen
Bei den Dreharbeiten verbringt der Stuntman viel Zeit, bis es endlich zu seinem Einsatz kommt. Er muß zuerst in die Garderobe, wird geschminkt und muß Proben hinter sich bringen. Er hat zwar bereit zu sein, muß aber warten. Szene für Szene wird mit den Schauspielern abgedreht. Kameras, Lichter, Ausrüstung und Spezialgeräte aller Art laufen permanent auf Hochtouren. Dann wird der Stuntman gerufen. Das ist der Moment, auf den er geduldig gewartet hat.
Stuntmen werden dann eingesetzt, wenn die Szene Gefahren birgt. Es werden jedoch alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um das Risiko des Stuntmans so niedrig wie nur möglich zu halten. Der Regisseur beschreibt die jeweilige Szene und erklärt, welche Vorstellungen er hat. Anschließend werden alle Spezialeffekte überprüft und auf die Lichter und Kamerawinkel eingestellt. Ein ganzes Netzwerk von Leuten ist damit beschäftigt, diese Einstellungen durchzusprechen. Manchmal kann ein Stuntman seine individuellen Qualifikationen und Erfahrungen kreativ einbringen. Er kann sich mit Vorschlägen und Anregungen dazu äußern, wie der Stunt am besten funktioniert. Die Sequenzen werden analysiert und visualisiert. Das Team bezieht von Anfang an, jeden Aspekt mit ein, zieht alle möglichen Hindernisse in Betracht und versucht sie aus dem Weg zu räumen. Das Ergebnis ist schließlich: das Unmögliche wird möglich gemacht!
Der nächste Schritt ist das Einstellen der Kameras und der Beleuchtung. Anders als im Theater, wo die Handlungen direkt aufeinanderfolgen, werden die Aktionen bei Film-Dreharbeiten Stück für Stück sorgfältig vorbereitet. In Kampfkunst-Szenen kann der Zuschauer sowohl die Aktion des Helden, als auch die Reaktion des Kampfgegners auf dessen Kicks oder Schläge verfolgen. All dies erfordert Vorausplanung. Es kann vorkommen, da? es einen ganzen Drehtag in Anspruch nimmt, um in eine Aktion, die im Film nur eine Minute dauert, soviel dramatische Effekte wie möglich zu packen. Wir Zuschauer sehen nur das Ergebnis – flüssig und klar.
90% der Stunts beinhalten Filmkämpfe
Bei 90% der Stunts dreht es sich um Kampfszenen. Während der Stuntman darauf wartet, den Kampf ausführen zu können, probt er die Bewegungen immer und immer wieder – die Blöcke, Schläge, Kicks und Würfe – um zu gewährleisten, daß der Kampf in der Szene fließend und mühelos verläuft. „Doch“, gibt Ito zu, „auch wenn noch so viele Techniken rechtzeitig vorher sorgfältig choreographiert wurden – in dem Moment, in dem die Kameras beginnen zu surren, kommt der Adrenalinstoß“ Da Stuntszenen bekanntlich niemals frei von Gefahren sind, ziehen sie normalerweise eine gespannte Menschen-menge an. Sogar die Stars versammeln sich, um zuzusehen. Wenn der Stunt im Kasten ist, wird oft Jubel und Applaus laut, denn gerade Action Movies stehen und fallen mit der Qualität der Stunts.
Ein Stuntman ist meistens ein Held, der stets im Hintergrund bleibt. Es ist für die Qualität eines Actionfilms unerläßlich, daß der Stuntman nicht zu sehen ist, sondern der Hauptdarsteller alle Szenen zu spielen scheint. Doch durch seine wagemutigen Aktionen schimmert hell das Feuer, das in seiner Seele brennt!
Diese Reportage wurde in der Kung Fu Revue 10/1998 veröffentlicht.
Text und Fotos: Annellen & Alex Simpkins.
Beratung: John Corcoran.