Weltmeisterschaft im Kyokushin Karate 1997

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Neuer Wind in alten Segeln – Erstmals nichtjapanische Weltmeister beim Kyokushin Karate, dem härtesten Karatestil der Welt. Die riesigen Trophäen gingen erstmals an Kämpfer verschiedener Gewichtsklassen. Einige wurden nach Polen und Brasilien vergeben.

Das Kyokushin Karate, gegründet von Mas Oyama, ist vor allem wegen seiner extremen Härte bekannt. Bei Wettkämpfen wird mit vollem Kontakt gekämpft. Nichts besonderes? Doch! Im Kyokushinkai wird ohne Schutzausrüstung gekämpft. Höhepunkt der Kyokushin-Wettkampfszene sind ohne Zweifel die Weltmeisterschaften, die nur alle vier Jahre abgehalten werden. Dabei wird nicht nur ohne Handschuhe und Safeties gekämpft, sondern auch ohne Gewichtsklassen. Es gibt nur einen Gewinner, der sich wirklich Weltmeister nennen darf. Bei allen vorangegangenen, sechs Weltmeisterschaften kam der Gewinner stets aus Japan. Im Zuge von Erneuerungen, und wahrscheinlich auch um den Anschluß an die Erfolge von K1-Promoter Ishii und seinen Seido Kaikan Veranstaltungen nicht zu verpassen, wurden zum ersten Mal Weltmeisterschaften mit Gewichtsklassen ausgetragen. Natürlich wählte man Tokyo als Austragungsort. Vor 10.000 Fans im ausverkauften Ryokoku Kokugikan Stadion ging es im Mai zur Sache.

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Die wichtigsten Neuerungen
Das System der Gewichtsklassen bei Wettkämpfen ist auch im Kyokushin Karate bekannt. Sie entsprechen zwar nicht den üblichen Gewichtsklassen, wie man sie zum Beispiel vom Karate, Taekwondo oder Kickboxen kennt, sondern sind „großzügiger“ angelegt: bis 70 Kg, bis 80 Kg und über 80 Kg. Vor allem in Europa und der westlichen Welt sind bei Wettkämpfen die Gewichtsklassen in Gebrauch. Auch in Japan werden sie verwendet. So werden seit einigen Jahren jährlich zwei japanische Meisterschaften abgehalten: eine mit Gewichtsklassen in Osaka und eine ohne Divisionen in Tokyo. Bei dieser Weltmeisterschaft wurde den bereits verwendeten Gewichtsklassen eine weitere hinzugefügt: über neunzig Kilo. Keine weitere Änderung fand sich in der Auswahl der Kämpfer. Was geblieben war, war eine gewisse „Japan-lastigkeit.“ War es bisher bei den Weltmeisterschaften jeder Nation erlaubt je zwei Kämpfer zu stellen, brachten die Japaner immer sechzehn Teilnehmer auf die Matte. Diese kämpften in den Vorrunden gegen viel leichtere Starter aus anderen asiatischen Ländern, wie Nepal oder Bangladesch, während sich die Europäer und Amerikaner untereinander dezimierten. So verwunderte es niemanden, daß unter den besten Acht immer erstaunlich viele Kämpfer aus dem Land der aufgehenden Sonne vertreten waren, die sich noch weiter nach oben kämpfen konnten. Dieses Mal waren in jeder Gewichtsklasse achtzehn Kämpfer am Start, davon vier Japaner. Da in Gewichtsklassen gekämpft wurde, fiel der „Gewichtsvorteil“ durch eine „glückliche Auslosung“ für die Japaner diesmal weg, was sich in den Resultaten widerspiegelte.

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Trauerfeier für Mas Oyama
Die Weltmeisterschaften wurden mit den Trauerfeierlichkeiten für den vor drei Jahren verstorbenen Kyokushin Karatebegründer Oyama Masutatsu begonnen. Vor dessen Tod stellte das Kyokushin Karate das weltweit mitgliederstärkste Karate dar. Mit dem Wegfall der Leitfigur setzte der Prozeß ein, der schon von der japanischen Soziologin Nakane Chie in ihrem Werk „Die Struktur der japanischen Gesellschaft“ anschaulich beschrieben wurde: Die bisher so starke Gruppe zerfiel in viele kleine Splittergruppen. Zwar war von Oyama Masutatsu an seinem Sterbebett der Weltmeister der 4. Weltmeisterschaften, Matsui Shokei, als Nachfolger ernannt worden, doch kurz darauf meldete sich die Witwe Oyamas mit dem Einwand Oyama sei von Matsui beeinflußt worden. Seine Ernennung sei nicht rechtmäßig, argumentierte sie und gründete ihre eigene Gruppierung. Danach spalteten sich andere Grüppchen ab, die sich nach einiger Zeit wieder vereinigten, so daß dem einst so mächtigen Kyokushin Karate dasselbe Schicksal zu Teil werden drohte, wie man es schon vom Boxen oder Kickboxen kennt: unzählige Organisationen, die alle ihre Meisterschaften abhalten, und für sich beanspruchen, nur ihre Meister seien die wahren Meister. Mittlerweile haben sich aber im Kyokushin Karate die Verhältnisse wieder eingependelt, und es gibt nur zwei Gruppen: die „Matsui“ Gruppe und die „Witwen“ Gruppe. Daraus resultierend fanden 1995 zwei Weltmeisterschaften statt, und man hatte erstmals zwei amtierende Weltmeister, die beide aus Japan kommen. Rein zeitlich war die „Matsui“ Gruppe aber jedesmal schneller. So auch diesmal: Während die ersten Weltmeisterschaften mit Gewichtsklassen schon abgehalten waren, sind die der „Witwen“ Fraktion erst zwei Monate später dran. Auch ansonsten dürfte die „Matsui“ Gruppe etwas schneller sein. Was Matsui oft angelastet wurde, war sein Alter: Mit 35 Jahren ist er für viele Japaner (und Nichtjapaner) einfach zu jung und unerfahren um Führer einer großen Gruppe zu sein. Dabei ist gerade seine jugendliche Dynamik und seine Abkehr vom teilweise starren Denken Oyamas, welche das Kyokushin Karate in Richtungen tendieren läßt, die vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wären. So wurde zum Beispiel von Matsui eine Profiliga gegründet. Um Kyokushin Karate attraktiver präsentieren zu können, wurde die Nähe anderer Gruppen gesucht, wie z.B. zu Ishii Kazuyoshiis Seido Kaikan. Gemeinsame Veranstaltungen sollten organisiert werden. Vorgangsweisen, die für Japaner geradezu als revolutionär betrachtet werden, aber aufgrund von Matsuis Alter durchgeführt werden können. Ob sie den erhofften Erfolg bringen werden, wird man jedoch erst in der Zukunft sehen.

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Harte Damenkämpfe
Und da waren sie also. Vier mal achtzehn Kämpfer und erstmals gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen achtzehn Kämpferinnen, die in den Klassen -65 Kg und + 65 Kg um die Weltmeistertitel antraten. Auch bei den Damen ging es enorm hart zu. Sie standen ihren männlichen Kollegen in nichts nach. Bis 65 Kg konnte sich die Polin Ewa Paulikowska gegen die Brasilianerin Katia Fukuma durchsetzen. Dritte wurde die Japanerin Watanabe Masako. Über 65 Kg hieß die Siegerin Maria Gibilisco aus Australien. Im Finale war ihr Ausnahmekämpferin Gabriella Vid aus Ungarn unterlegen. Auf Platz drei landete Melvi Marin aus Bolivien.

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Favoritensturz in den leichten Klassen
Die besonderen Überraschungen boten die leichten Gewichtsklassen. Bis 70 Kg wurde der Japaner Na-ruse Ryu von vielen als der heiße Favorit gehandelt. Bei den sechsten Weltmeisterschaften hatte er den Technikerpreis erhalten, und nur drei Wochen vor dieser WM hatte er erfolgreich die Prüfung zum dritten Dan inklusive 30 Mann Kumite absolviert. Das Schicksal wollte es jedoch anders. Im Halbfinale traf er auf den starken Polen Piotr Sawicki. Mit blitzschnellen Beinkombinationen konnte dieser Naruse nach Punkten bezwingen, und sich für das Finale qualifizieren. Im Endkampf traf er auf seinen Landsmann Leszek Zgrzebniak. Auch bei der letzten EM in Athen lautete die Finalbegegnung gleich, damals konnte Zgrzebniak den Sieg erringen. Diesmal sollte es anders sein. Während der Europameister einen „power-Kampfstil“ mit vielen Tsukis und Lowkicks bestritt, wußte Sawicki mit guter Beinarbeit und blitzschnellen Ushiro Geris und Ushiro Mawashi Geris Punkte zu sammeln. So war nach der ersten Runde die Entscheidung bereits gefallen. Sawicki wurde zum Weltmeister bis 70 Kg erklärt. Naruse konnte seiner Favoritenstellung noch gerecht werden, und nach seinem Sieg über den Russen Eugeny Prokov den dritten Platz belegen.

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Weitere Überraschungen
Das Favoritensterben setzte sich fort. In der Klasse bis 80 Kg favorisierten alle einen Mann: Den Australier Gary O’Neil. Mit nur 75 Kg war er der Supertechniker bei den letzten Weltmeisterschaften. Ihm gelang es bis auf den sensationellen vierten Platz vorzustoßen. Dabei hatte er Kämpfe gegen Gegner, die im Schnitt zwanzig Kilo schwerer waren als er, zu absolvieren. Dank seiner außerordentlichen Beinarbeit und blitzschnellen Technik war es dem Australier, der seit mehreren Jahren in Japan lebt, gelungen, zu gewinnen. So sagten viele Insider O’Neil den Sieg voraus, wenn noch dazu mit Gewichtsklassen gekämpft wurde. Es schien diesmal nicht so richtig zu klappen. Ob es an der Grippe lag, an der O’Neil nur kurz davor laborierte, oder ob er einfach nur einen schlechten Tag hatte? Irgendwie fehlte es ihm an jener Explosivität, für die er so bekannt ist. So war das Wettkampfgeschehen für ihn vorbei, als er in der zweiten Runde auf den Japaner Kiyama Hitoshi traf. Mit harten Tsukis und Lowkicks konnte der Japaner O’Neil seinen Kampfstil aufzwingen, so daß er nach zwei Verlängerungen zum Sieger erklärt wurde. Der Aufstieg Kiyamas ging weiter. Nachdem er im Halbfinale seinen Landsmann Kidachi Hiroyuki bezwungen hatte, stand er im Finale einem weiteren Kämpfer Nippons gegenüber: Adachi Shinji. Die Entscheidung fiel bereits im Hauptkampf. In den drei Minuten überpowerte Kiyama Adachi völlig, und wurde einstimmig zum Sieger erklärt. Auf dem dritten Rang landete der Brasilianer Marco Da Costa.

Japaner vorne
Auch in der Klasse bis 90 Kg herrschten die Japaner. Ins Finale gelangten Takaku Masayoshi und Horiike Norihisa. Während der Hauptkampf noch ausgeglichen war, übernahm Takaku in der Verlängerung die Initiative und bearbeitete Horiike mit Tsukis und Lowkicks. Das brachte ihm den Erfolg, denn er gewann diese Begegnung klar. Auf dem dritten Platz gelangte ein weiterer Japaner, Sugiyama Fumihiro, der sich gegen den Russen Igor Shumin durchsetzen konnte.

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Favoriten gewannen klar
Danach kam es zur Entscheidung in der Klasse über 90 Kg. Dieser Giganten-Klasse wurde in Japan die größte Bedeutung beigemessen, sind doch die Chancen groß, daß der nächste Weltmeister ohne Gewichtsklassen auch aus dieser Königsdivision stammen wird. Außerdem hegten Japaner immer schon Bewunderung für die „schweren Brummis“, was auch den Erfolg, den der K-1 Zirkus in Japan hat, erklärt. Der klare Favorit war der Brasilianer Francisco Filho. Zu erstem Ruhm kam Filho als er bei der fünften Weltmeisterschaft 1991 Andy Hug spektakulär KO kickte. Bei der sechsten WM konnte er den dritten Platz belegen. Erwartungsgemäß kämpfte der Brasilianer sich problemlos nach vorne. Im Halbfinale traf er auf den Japaner Takao Masaki, der nach 45 Sekunden Opfer eines Mae Geris wurde, und K.o. ging. Somit stand Filho im Finale. Im anderen Pool trafen die beiden anderen Favoriten Nicholas Pettas aus Dänemark und Glaube Feitosa aus Brasilien im Halbfinale aufeinander. Während Pettas, der seit vier Jahren in Japan trainiert, sich auf Lowkicks konzentrierte, lies Feitosa ein Feuerwerk an Techniken los: Kakato Oroshi, Ushiro Mawashi Geris und Mawashi Geris flogen dem Dänen um die Ohren, der tapfer an seiner Linie festhielt. Es kam zur Verlängerung. Aber der Kampfwille Pettas schien wie auf einen Schlag verloschen zu sein, denn so richtig wollte er in der Verlängerung nicht mehr fighten. So begann er, die ersten Treffer durch Feitosas Beintechniken zu kassieren. Nach der Verlängerung war die Entscheidung klar: Das Finale wurde eine rein brasilianische Angelegenheit. Auch hier wußte Filho sich durchzusetzen. Durch den Kampf mit Pettas waren die Beine Feitosas arg in Mitleidenschaft gezogen, was auch Filho wußte, und sich so weniger auf seine spektakulären Beintechniken, denn auf seine Lowkicks verlies. Er sollte recht behalten. Die Finalbegegnung verlief sehr einseitig. Filho gewann klar. Auf Platz drei landete Nicholas Pettas, dessen Gegner Takao zum Kampf nicht mehr angetreten war. Für Filho hat die zukünftige Zusammenarbeit Matsuis mit Ishii einen besonders positiven Aspekt: Für den 29. Juli wurde in Nagoya die Kampfpaarung Filho gegen Hug vereinbart. Ein Revanchekampf der Extraklasse. Allerdings wird er nach Thaiboxregeln ausgetragen, was Filho doch einige Kopfschmerzen, im wahrsten Sinne des Wortes, bereiten dürfte. Durch die Regeln dürfte Hug im Vorteil sein, aber wer weiß, vielleicht kommt alles anders.

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Reportage und Fotos: Horst Kalcher