
Es war eine Sensation, als Anfang dieses Jahres der Hong-Kong-Chinese Yip Chun zum ersten Mal für Seminare nach Deutschland kam. Was ist so besonders daran? Yip Chun ist der älteste von zwei Söhnen des verstorbenen Wing Chun Großmeisters Yip Man. Er kannte seinen Vater und dessen Wing Chun so gut wie kein anderer. Wen jemand die Wahrheit um Yip Man kennen muß, dann ist das Yip Chun.
Er ist 73 Jahre alt und gerade mal 1,60 m groß, schlank, eher etwas schwächlich. Für sein Alter verfügt er über eine erstaunliche Vitalität. Körperlicher Anstrengung während seiner Seminare sieht er scheinbar mit Freude entgegen, ebenso dem Zusammentreffen mit neuen Menschen. Er ist überaus freundlich und versprüht viel Lebensfreude. Er geht derart offen mit Leuten um, man könnte meinen, er würde jeden schon viele Jahre kennen und sich gerne mit ihnen unterhalten. Sicher, er genießt hier eine Aufmerksamkeit, die weit über das Normale hinausgeht, doch von Arroganz und großmeisterlichem Gehabe ist bei ihm nichts zu spüren. Yip Chun ist ein Phänomen. Viele Menschen in der westlichen Welt glauben, daß die Großmeister aus Fernost unnahbar sind, stets strengen Umgang pflegen und nur ihre Disziplin im Kopf haben. Es mag Meister geben, die so sind – und es sind nicht wenige, doch Yip Chun ist völlig anders. Wenn man das sagen kann, dann nicht um ihn als Person oder Meister hervorzuheben, sondern um seine ungewöhnliche Offenheit und seinen Humor anzusprechen. Er verherrlicht keine Geheimniskrämerei und läßt Fragen aufgrund seiner Autorität unbeantwortet. Er beantwortet die Fragen soweit er kann und erklärt interessante Sachverhalte. Der Witz kommt dabei nicht zu kurz. In einigen Fällen muß er sich wohl gedacht haben, „was haben diese Deutschen für merkwürdige Vorstellung, von wem haben sie das?“ Natürlich gibt es einige Fragen, die ihm unangenehm sind, doch auch diese versucht er zu beantworten, wenn auch mit diplomatischen Umschweifen.
Bei Yip Chun merkt man, daß Wing Chun eine lebende Kampfkunst ist, die durch die Menschen, welche sie lehren und betreiben, geprägt wird. Er weiß, daß ein Schüler begreifen muß, was der Lehrer ihm sagen will und dieser dafür unterschiedliche Möglichkeiten hat. Vielleicht ist seine Offenheit aus dieser Einsicht zu erklären, vielleicht ist es aber auch die Lehre, die ihm sein berühmter Vater mit auf den langen Lebensweg gegeben hat.
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Wir sind der Einladung der deutschen Seminarveranstalter gefolgt und haben anläßlich eines Seminars in Darmstadt ein Interview mit Yip Chun geführt. Samuel Kwok übersetzte.
Kung Fu: Viele Meister aus Hong Kong haben bereits Seminare in Deutschland abgehalten. Warum haben Sie sich erst jetzt dazu entschlossen, auch nach Deutschland zu kommen?
Yip Chun: 1981 verließ ich zum ersten Mal Hong Kong für Seminare. Ich war in der Schweiz und in Dänemark sowie in anderen Länder, aber ich war noch nie in Deutschland. Die Idee, die dahinter steckt, ist, das Wing Chun in allen Ländern zu verbreiten. In Deutschland gibt es bereits einige bekannte Meister, so daß ich bis heute gewartet habe.
Kung Fu: Heißt das, sie sind bislang nicht nach Deutschland gekommen, weil z.B. Leung Ting und Wong Shun Leung hier präsent sind, bzw. waren ?
Yip Chun: Nein, diese Leute können mich nicht davon abhalten, in ein Land zu kommen und Seminare zu geben. Ich habe bislang bevorzugt, in Länder zu reisen, wo Wing Chun noch nicht so weit verbreitet ist.
Kung Fu: Sie arbeiten hier mit Klaus Fillbrandt und Reiner Günther zusammen. Warum gerade mit ihnen?
Yip Chun: Zunächst haben sie mich recht herzlich eingeladen und empfangen. Ich sehe, daß sie sehr ernsthaft Wing Chun betreiben und es lieben. Ich bin sehr dankbar, daß sie die Seminare mit mir organisieren.
Kung Fu: Es gibt zwei gängige Formen einen Kampfstil zu verbreiten: Man kann sich nach außen offen geben und alle Interessierten einladen oder man kann eine straffe Organisation bilden und eine strikten Lehrplan erschaffen. Gehören sie zu den Meistern, die ein offenes System bevorzugen?
Yip Chun: Die Lehrmethoden sind überall unterschiedlich. Ich selbst lehre sehr offen. Es ist nicht gut, wenn man die Schüler zu stark einschränkt oder kontrolliert.
Kung Fu: Man sagt, sie sollen mit dem Wing Chun erst sehr spät begonnen haben. Stimmt das?
Yip Chun: Ich bin so wie ich vor ihnen stehe 73 Jahre alt. Ich habe mit 7 Jahren begonnen, also vor 65 Jahren. Aber es ist richtig, zwischendurch gab es eine längere Pause. Ich wurde durch meinen Vater sehr beeinflußt, dessen Sport für ihn sehr wichtig war.
Kung Fu: Haben sie direkt von ihrem Vater gelernt, oder hatten sie auch andere Lehrer?
Yip Chun: Natürlich habe ich von meinem Vater gelernt. Können sie sich vorstellen, daß er mich zu einem seiner Senior-Intructors geschickt hat um seinem eigenen Sohn Wing Chun beizubringen?
Kung Fu: Es gibt viele Leute, die behaupten, Wing Chun so zu betreiben, wie es von Yip Man gelehrt wurde. Wenn man sie jedoch vergleicht, stellt man fest, daß es zum Teil gravierende Unterschiede gibt. Wie kann man erkennen, ob jemand wirklich das Wing Chun ihres Vaters betreibt?
Yip Chun: Das ist ganz einfach. Bevor mein Vater, der Großmeister Yip Man, starb, hinterließ er einen 8-mm-Film mit allen Formen. Wenn man sehen will, ob sie jemand falsch macht, muß man sie einfach mit dem Film vergleichen. Ursprünglich gehörte das Band mir und meinem Bruder. Später haben wir Leung Ting eine Kopie gegeben, der ein Video damit produziert hat. Auch ich habe 1987 ein Video über original Wing Chun gedreht.
Kung Fu: Ist der original Film ihres Vaters nicht mehr verfügbar?
Yip Chun: Im Moment befindet er sich in einem Schließfach bei meiner Bank. Er gehört mir und meinem Bruder. Man sieht Ausschnitte in Leung Tings Video. Dann gibt es wie gesagt noch mein Video über original Wing Chun und in Hong Kong gibt es noch einen Film mit dem Titel: „Yip Man, the Legend“, in dem ebenfalls Ausschnitte aus dem 8-mm-Film gezeigt werden.
Kung Fu: Hatten sie nie die Absicht ein Buch mit allen Formen des Wing Chun zu veröffentlichen? Danach besteht sicher eine rege Nachfrage.
Yip Chun: Daran arbeite ich noch.
Kung Fu: Man hört sehr viel über den Begriff „Closed DoorStudent“, dessen Gebrauch vermitteln soll, das so jemand besonders gut im Wing Chun ist. Was können sie uns über diesen Begriff sagen? Gab es solche Leute?
Yip Chun: Wir müssen weit zurück gehen in der chinesischen Kultur, um diesen Begriff zu erklären. In China vor 200 Jahren gingen Frauen nur sehr selten aus dem Haus. Die Schulen bestanden damals aus zwei Räumen, einem Unterrichtsraum, der äußere Teil des Gebäudes für jederman zugänglich und dahinter das Schlafzimmer, zu dem die Familie und enge Freunde zutritt hatten. Normale Leute konnten da nicht hin, um die Frau oder Tochter zu sehen. So entstand der Begriff „In Door“ für einen Schüler, der das persönliche Vertrauen, der Familie genoß. Das hat aber nichts mit den Fähigkeiten im Kung Fu zu tun! Das ist die Bedeutung für „In Door Student“. Heute gibt es das nicht mehr, denn die meisten Lehrer unterrichten nicht in ihrem eigenen Haus. Außer-dem ist heute alles liberaler, Frauen gehen aus dem Haus.
Kung Fu: Gibt es einen Unterschied zwischen einem „In Door Student“ und einem „Closed Door Student“ ?
Yip Chun: Das sind zwei unterschiedliche Begriffe. Ein „In Door Student“ kann das Innere des Hauses betreten. Ein „Closed Door Student“ ist der letzte Schüler, den ein Lehrer unterrichtet, bevor er seine Schule schließt oder stirbt. Es gibt also nie mehr als einen einzigen „Closed Door Student.“ Ich erinnere mich deutlich an den letzten Schüler von Yip Man, er war nicht besonders gut, Mr. Yip. Er betreibt kein Kung Fu mehr, er arbeitet als Anwalt.
Kung Fu: Wenn heute jemand sagt, er wäre ein „Closed Door Student“ von Yip Man, sagt er nicht die Wahrheit. Haben wir das richtig verstanden?
Yip Chun: Es dürfte nur einen geben, denn mein Vater ist nur einmal gestorben.
Kung Fu: Erinnern sie sich an Schüler ihres Vaters, die besonders gut waren?
Yip Chun: Bruce Lee!
Kung Fu: Hat Bruce Lee direkt von ihrem Vater gelernt? Man sagt er soll von seinem Assistenten Wong Shun Leung gelernt haben.
Yip Chun: Wong Shun Leung begann etwas vor Bruce Lee mit dem Training. Sie waren Kung Fu Brüder. Es ist richtig, das Wong Shun Leung Bruce Lee als der ältere Kung Fu Bruder geholfen hat. Sie hatten eine sehr enge Verbindung.
Kung Fu: Zur selben Zeit ist mit William Cheung ein weitere bekannter Meister bei Yip Man in die Lehre gegangen. War er als ein guter Kämpfer bekannt?
Yip Chun: Er liebte das Kämpfen, er wollte herausfinden, wer der Beste ist. Er kam jedoch ein wenig später. Zu dieser Zeit war er noch nicht in Hong Kong.
Kung Fu: In Deutschland kennen wir zwei weitere Schüler von Yip Man: Lok Yiu und Leung Ting. Was können sie uns über die beiden sagen? Von Lok Yiu sagt man, er sei der älteste Schüler Yip Mans. Ist das richtig?
Yip Chun: Er war ein sehr früher Schüler von Yip Man, aber es gab andere vor ihm. Man kann aber sagen, er ist der älteste noch lebende Schüler meins Vaters.
Kung Fu: Ist es richtig, daß er als Lehrer in Hong Kong respektiert wird?
Yip Chun: Ja. Er unterrichtet eine Klasse im Gebäude der Hong Kong Police.
Kung Fu: Über Leung Ting, der mit dem Deutschen Keith Kernspecht eine wirtschaftlich starke Organisation, die das Wing Chun als Wing Tsun bezeichnet, aufgebaut hat, hört man, daß er ein ganz enger und vertrauter Schüler Yip Mans gewesen sein soll. Ist das richtig? Hat er von Yip Man gelernt und war er ein guter Kämpfer?
Yip Chun: Lassen sie mich erst etwas über meine Beziehung zu Leung Ting sagen. Wir sind seit vielen Jahren eng befreundet. Auch Kernspecht kenne ich gut. Jedesmal wenn er nach Hong Kong kommt, trinken wir zusammen Tee. Als ich vor einigen Jahren zum Urlaub in die Schweiz fuhr, kam Kernspecht um mich dort für ein paar Stunden zu besuchen. Ich glaube, es war 1985 in Lausanne. Auch in Kopenhagen hat er mich mal besucht, 1987 oder so. Er kam, weil er hörte ich würde da sein. Unsere Verbindung ist sehr freundschaftlich, es gibt keine Probleme. Wenn sie mir jedoch diese Frage stellen, muß ich ihnen die Wahrheit sagen. Ich will nichts schlechtes oder unwahres sagen, auf keinen Fall. Zu der Behauptung, daß Leung Ting ein Schüler von Yip Man gewesen sein soll, muß ich sagen, daß ich Yip Man niemals gesehen habe, wie er Leung Ting unterrichtet hat. Das ist die Wahrheit.
Kung Fu: Wer war dann der Lehrer von Leung Ting?
Yip Chun: Er trainierte bei Leung Sheung, aber der lebt nicht mehr. Das war sein Lehrer.
Kung Fu: Es gibt viele unterschiedliche Auffassungen über die dritte Form im Wing Chun, Biu Jee. Die einen sagen, es ist eine Verteidigungsform, die anderen behaupten, es ist eine Sammlung von Auswegen um zum System – zur Centerline – zurückzufinden. Was ist richtig?
Yip Cun: Im Kung Fu ist eine Form nicht nur für eine Sache gut. Viele Angriffe sind auch gleichzeitig Möglichkeiten der Verteidigung. Wenn jemand darüber argumentiert, versteht er den Sinn der Übungen nicht.
Kung Fu: In Hong Kong gibt es mit der Ving Tsun Athletic Association einen Verband für die Kunst Yip Mans. Wie sieht hier die Zukunft aus? Wird man versuchen, einen Standard zu etablieren oder weiterhin neutral bleiben?
Yip Chun: Die Ving Tsun Athletic Association von Hong Kong wurde erstmals 1967 gegründet. Damals war Yip Man noch am Leben. Es gab zwei Gründe für diesen Verband. Zum einen wollte Yip Man das Wing Chun verbreiten, zum anderen es zusammenhalten. Bis heute haben wir diese beiden Ziele erreicht. In Hong Kong funktioniert es. In andere Länder reichen die Hände des Verbandes nicht. Aber wir hoffen, daß auch das einmal erreicht wird. Ich würde mich freuen, wenn sie ihre Leser über unsere Association informieren können. Es ist eine sehr demokratische Struktur. Jedes Jahr wählen wir einen neuen Vorsitzenden. Die Versammlung besteht aus elf Direktoren, von denen keiner länger als drei Jahre im Amt bleiben darf. Sie wählen den Vorsitzenden. Normalerweise wählt man den Ältesten. Es handelt sich jedoch nur um ein administratives Amt. Der Vorsitzende ist kein Großmeister oder so. Während der Wahlen kommt es zu keinen Diskussionen, von welchem Stil man kommt. Es gibt keine unnötigen Diskussionen. Alle wollen nur eins: Wing Chun verbreiten. Wenn jemand ein Direktor oder sogar der Vorsitzende wird, das bedeutet das nicht, daß sein Wing Chun besonders gut ist. Wenn wir eine Wahl abhalten, interessiert sich niemand für das Kung Fu.
Kung Fu: Kommen alle Direktoren aus Hong Kong?
Yip Chun: Meistens. Es liegt daran, daß man bei den Sitzungen, wenn gewählt wird, vor ort sein muß, um gewählt zu werden. Daher sind es fast nur Leute aus Hong Kong.
Kung Fu: Gibt es keine Anfragen von Ausländern, die Mitglied werden wollen?
Yip Chun: Aber sicher, es gibt viele Interessenten, die Mitglieder sind. Jeder kann ein Mitglied bei uns werden, solange er Wing Chun betreibt oder seinen Beitrag entrichtet. Wir vergeben auch Mitgliedschaften an andere Leute, die noch nicht einmal wissen, was Siu Leem Tau ist, weil sie das Wing Chun unterstützen.
Kung Fu: Gibt es Unterschiede zwischen normalen Mitgliedern und Ehrenmitgliedern?
Yip Chun: Normalerweise wird man ein Mitglied auf Lebenszeit, ebenso verhält es sich mit den Direktoren ehrenhalber. Zu Beginn mußten wir Geld aufbringen, um unsere Versammlungstätte zu kaufen. Jeder, der uns einen Betrag von 1.000 Dollar zu Verfügung stellte, wurde ehrenhalber zum Direktor ernannt. Es war eine Spende. Das war damals, doch heute gibt es nur noch die normalen lebenslangen Mitgliedschaften.
Kung Fu: Wie hoch war damals die Gebühr für eine Ehrenmitgliedschaft?
Yip Chun: 200 Dollar, und 1.000 Dollar für die Ehrendirektoren, doch die gibt es heute nicht mehr. Damals war das viel Geld.
Kung Fu: Wieviele Leute bezahlten damals 1.000 Dollar um Ehrendirektor zu werden?
Yip Chun: Es waren ungefähr 40. Viele waren nur Freunde. Einfach Leute, die bereit waren das Geld zu geben. Viele davon hatten nie etwas mit der Athletic Association zu tun.
Kung Fu: Es gibt die Auffassung, daß man Wing Chun nur von Leuten lernen kann, die zu einer bestimmten Zeit bei Yip Man gelernt haben sollen. Es gibt auch andere Meinungen, die sagen, man kann es auch Büchern lernen, wenn man die Bedeutung der Techniken erkennt. Was denken sie?
Yip Chun: Man muß Logik benutzen, um darüber zu reden. Ich denke nicht, daß man Wing Chun lernen kann, wenn man sich ein Buch kauft und Videos anschaut. Selbst in Unterricht muß man eine Technik mehrmals zeigen, bis man sie ausführe kann. Es gibt Situationen im Wing Chun, in denen man die Kraft des Gegners spüren muß. Das kann man nicht aus einem Buch lernen. Man braucht jemand zu anfassen. Man kann nicht sagen, daß bestimmte Schüler von Yip Man besser sind oder nicht. Meine Erfahrung sagt, daß jedoch die späteren Schüler von Yip Man etwas besser waren, weil er selbst mehr dazu gelernt hat, als er diese unterrichtete. Am Anfang war alles viel schwerer als später, die Methode war noch nicht so ausgereift. Als Lehrer entwickelt man sich schließlich weiter, man lernt, sein Können besser weiterzugeben. Die Erfahrung des Lehrens ist dazu sehr wichtig. Das ist so wie mit Bibliotheken in bekannten Universitäten. Dort kommen immer mehr Bücher von mehr Professoren zusammen. Die Erfahrung des Lehrens vermehrt sich.
Kung Fu: Heißt das, sie verbessern ihr Wing Chun durch die Erfahrung, ständig neue Schüler zu haben, denen sie die Kunst auf eine etwas andere Art und Weise beibringen müssen?
Wing Chun: Wen man ein verantwortungsvoller Lehrer ist, kann man viel von seinen Schülern lernen. Das ist meine persönliche Erfahrungen, 25 Jahre nach dem Tod meines Vaters. Wenn ich nicht von meinen Schülern gelernt hätte, wäre mein Kung Fu nicht besser geworden. Ich versuche mich ständig weiterzuentwickeln. Bis heute bin ich noch nicht voll zufrieden mit mir.
Kung Fu: Mit welchem Alter sollte man anfangen, Wing Chun zu trainieren?
Wing Chun: Zuerst reden wir über das Alter. Wenn wir Kung Fu machen, muß die Figur nicht so gut sein, denn sonst hätte ich schon vor vielen Jahren aufhören müssen. Ich bin 73 Jahre und muß keine Kraft aufbringen, was ich auch nicht könnte. Die Technik ist das Entscheidende. Früher lernten nur Männer das Kung Fu. Wenn Frauen kamen, konnten sie schnell lernen, doch sie trainierten nicht so lange, weil sie Kinder bekamen. Das beste Einstiegsalter ist laut meinem Vater 16 oder 17 Jahre. Man sollte so alt sein, weil man sein Gehirn benutzen muß um Wing Chun auszuführen. Wer zu klein ist, kann die Wing Chun Techniken nicht richtig ausführen.
Kung Fu: Ihre Figur hat sich in ihrem Leben sicher verändert. Hat es sie dazu bewegt, ihre Techniken zu verändern oder anzupassen?
Yip Chun: Ich bin cleverer geworden (lacht).
Kung Fu: Hat sich nicht die Form der Ausführung verändert? Viele Menschen stellen sich vor, daß man vor 100 Jahren einen Kampf auf der Straße ganz anders angefangen hat als heute. Hat das Wing Chun verändert?
Yip Chun: Da gibt es große Unterschiede. Vor 100 Jahren hätten wir so zusammensitzen können und wenn irgendwo in der anderen Ecke des Raumes zwei Leute mit dem Schwert gefochten hätten, wäre das völlig normal gewesen. Damals hat man oft Waffen gebraucht. Jetzt ist das anders, wer eine Waffe trägt wird gleich verhaftet. Das Wichtige beim Lernen von Kung Fu ist nicht das Kämpfen! Es gibt drei Ziele: 1. das Kämpfen, um sich zu verteidigen. 2. Gesundheit und 3. um ruhig und ausgeglichen zu werden in schwierigen Situationen. Diese drei Dinge bilden die Säulen des Wing Chun. Wenn man mit Wing Chun nur das Kämpfen verbindet, ist das wie ein Haus mit drei Säulen, bei den zwei Säulen fehlen. Würde es im Wing Chun nur darum gehen, würde das System heute nicht mehr existieren.
Kung Fu: Aus dem Karate kennt man den Spruch, daß jeder vermiedene Kampf ein gewonnener Kampf ist. Sind sie der Meinung, daß man Auseinandersetzungen lieber aus dem Weg gehen sollte?
Yip Chun: Das stimme ich völlig mit überein. Ich hatte nicht viele Kämpfe und das ist gut.
Kung Fu: Stimmt es, daß es in Hong Kong Turniere gab, in denen die besten Kämpfer auf der Straße bestimmt wurden?
Yip Chun: Meinen sie, wie in einem Film von diesem Jean-Claude van Damme?
Kung Fu: Irgendwo wird er es doch her haben?
Yip Chun: Es gab Challenge Kämpfe, das ist richtig. Das war in den 50er und 60er Jahren. Wong Shun Leung hat viele Kämpfe bestritten. Durch seine Siege wurde das Wing Chun sehr bekannt. Es gab nicht viele Turniere, so traf man sich auf der Straße zu diesen Kämpfen. Alle waren sehr begeistert.
Kung Fu: Haben sie damals aufgrund der Erfolge von Wong einen stärkeren Zulauf in den Wing Chun Schulen verzeichnen können?
Yip Chun: Ja, immer. Zu dieser Zeit sagte man, daß die Orte, an denen Martial Arts gelehrt wurden, voller waren als die Geschäfte, in denen das Essen verkauft wurde. Es war ein richtiger Boom. Einige Jahre später ging es wieder zurück.
In der kommenden Ausgabe von Kung Fu erscheint der zweite Teil des Interviews mit Yip Chun. Freuen sie sich schon jetzt auf seine aufschlußreichen Antworten.