Amerikanisches Sport Karate

Chuck Norris Chuck Norris (rechts)

Wenn man heute durch eine Budozeitschrift blättert, stößt man auf zahllose Wettbewerbsformen fuer Kampfsport. Das Karate umfaßt eine besonders hohe Vielzahl an Varianten – vermutlich mehr als irgendein anderer Sport auf der Welt. Die meisten dieser Versionen entstanden ueber die Jahre in den USA und verbreiteten sich schnell in Europa. Amerikaner waren schon immer darum bemueht, neue Wege zu ersinnen – das hat sich bis heute nicht geaendert  – und dieses Bestreben wird auch im Sportkarate deutlich. Unser US-Korrespondent John Corcoran, ein hoch angesehener Budosporthistoriker, Fach- und Buchautor schildert die wahre Geschichte des Sportkarate, dem Vorläufer des heutigen Kickboxens.
Zu den bekannten Wettkampfformen des Sportkarate gehören „Non-Contact“ (Kein Kontakt); „Semi-Contact“ (Halbkontakt, oder „Point-Karate,“ wie es oft genannt wird); „Light-Contact“ (Ununterbrochener Kontakt) und „Full-Contact“ (Vollkontakt). Einige Stile werden sowohl in Amateur- als auch in Profiklassen eingeteilt. Die Anfänge des Sportkarate gehen in den USA auf eine aussergewöhnliche Geschichte zurück, die von wahrhaft außergewöhnlichen Menschen gepraegt ist: robuste amerikanische Kämpfer, die dem Sport nicht nur zu einem höheren Bekanntheitsgrad verhalfen, sondern es auch geschafft haben, die Kampfkunst als öffentlich anerkannte Selbstverteidigungsform zu etablieren. Verfolgt man die Spuren der unübersichtlichen Entwicklung dieses Sports – ein Weg durch Höhen und Tiefen bis hin zu internationaler Popularität – stößt man auf einen hochinteressanten, geschichtlichen Hintergrund.
In der Zeit des großen Aufschwungs von 1950-1960, gründeten hartgesottene ehemalige Militärangehörige, von denen viele nach Ende des Zweiten Weltkrieges und während des Vietnamkrieges im Orient ausgebildet worden waren, und kampflustige asiatische Einwanderer die ersten Kampfkunstschulen Amerikas. Für dieses Unterfangen und, um den stündigen physischen Herausforderungen der Skeptiker gegenübertreten zu können, waren sie gezwungen, so etwas wie „Kickhelden“ zu werden – das moderne Gegenstück zu den  Revolverhelden des Wilden Westens. Es war an der Tagesordnung, dass verhaßte Störenfriede, die testen wollten, ob das Ganze wirklich funktioniert“, in eine Kampfkunstschule marschierten, den Unterricht unterbrachen und den Trainer herausforderten. J. Pat Burleson aus Fort Worth, Texas, einer der kampflustigsten Karatepioniere erinnert sich: „Wir waren harter Kritik ausgesetzt, weil wir die kämpferischen Aspekte der Kampfkünste angeblich zu streng lehrten. Doch uns und unserem Beweis, daß die orientalischen Kampfkünste sich in einem Fight wirklich bewähren, ist es zu verdanken, daß sie heute in diesem Land solch große Anerkennung genießen. Aufgrund unserer Arbeit, kann jeder überall im Land eine Kampfkunstschule eröffnen, ohne vorher sein Koennen unter Beweis stellen zu müssen.“
Diese Vertreter der alten Schule betrachteten ihre Kampfkünste aus der gleichen Sichtweise wie die Samurai-Krieger – unter einem praktischen, technischen und strategischen Aspekt. In anderen Worten: sie würden – aus Gründen der Ehre – bei einer Herausforderung bis zum Letzten kämpfen und auch nicht davor zurückschrecken, zuerst zuzuschlagen, wenn ihr Leben bedroht ist. Wie der späte Kenpo-Koenig Ed Parker, eine zentrale Figur in der Amerikanisierung der Kampfkünste, einst so blumig formulierte: „Diejenigen, die zögern, werden meditieren – in der Horizontalen.“ Auch die asiatischen Shotokan-Karatepioniere, die nach Amerika auswanderten, um dort Schulen zu gründen, waren von der Devise „halt auch die andere Wange hin“ weit entfernt. Sie galten ebenfalls als wilder Haufen. Manche von ihnen, wie z.B. Takayuki Mikami aus Louisiana, waren in der Lage, mit der bloßen Faust ein Makiwara mit ein paar wohl plazierten Schlägen zu spalten! Der Anblick dieser rohen Gewalt überzeugte so manchen Skeptiker davon, dass Karate durchaus Schaden anrichten konnte.
Wenn man die Begleitumstände dieser Epoche und das kampflustige Temperament der amerikanischen Kamfkunstpioniere betrachtet, überrascht es nicht, daß die frühen Karateturniere den unerschrockensten Kämpfern vorbehalten waren.
1962 fand im Madison Square Garden in New York City das erste öffentliche Karateturnier in Amerika statt und im folgenden Jahr wurden in den größeren Städten des Landes weitere Turniere abgehalten. Diese frühen Wettkämpfe waren geprägt von Brutalität und Blutvergiessen. Historiker gaben dieser Epoche den treffenden Namen Blood’n’Guts Ära des amerikanischen Karate“ – eine Periode, die von 1963, als die bedeutenden offenen Turniere starteten, bis etwa 1970, die Zeit, in der der Sport vorübergehend in seine erste Kickboxing-Phase überging, andauerte.
Während dieser Ära waren die Turniere eine Arena nur für die wagemutigsten Karatekas, die viele Schläge einstecken, aber auch genauso viel austeilen konnten. Die damals populäre Kampfart wurde „Non-Contact“ (kein Kontakt) oder „Semi-Contact“ (halber Kontakt) genannt – was eigentlich einen grotesken Widerspruch darstellt. Laut den Regeln waren nur Schläge in das Gesicht, wobei kurz vor dem Auftreffen zurückgezogen werden mußte, und wenig Körperkontakt erlaubt. Übertriebener Kontakt war ein Grund, disqualifiziert zu werden.
Trotz dieser allgemeinen Regeln war starker Kontakt sowohl zum Gesicht als auch zum Körper derart gebräuchlich, daß diese Vorgehensweise von Teilnehmern und Funktionären als Standard akzeptiert wurde. Die Techniken, an heutigen Maßstäben gemessen roh und gefährlich, waren genauso unausgereift wie die Regeln des noch in der Wiege liegenden Sports. Selbst wenn ein Kämpfer seinem Gegner die Knochen brach oder ihn in die Haupttribuene prügelte, hatte das keine Disqualifikation zur Folge. Wenn der Kontrahent ein wahrer Kämpfer war, kam er zurück und teilte die gleichen Schläge aus, die er vorher hatte einstecken müssen.
In dieser „Rough-and-tumble“ Periode waren sich die Kämpfer nicht darüber im klaren, welche Techniken funktionierten und welche nicht. Es wurde viel experimentiert, was viele Verletzungen zur Folge hatte.
Am 28. Juli 1963 richteten Robert Trias und John Keehan (der später unter dem Namen „Count Dante“ bekannt wurde) im Chicago Fieldhouse die ersten Karate-Weltmeisterschaften aus. Aus jeder Ecke Amerikas reisten Kämpfer und Helfer an, um daran teilzunehmen. Den Promotern standen folgende Helfer und Assistenten zur Seite: Ed Parker, Jhoon Rhee, George Mattson, Philip Koeppel, Harold Long, Anthony Mirakian und der Kanadier Mas Tsuroaka. Darüber hinaus erschien nahezu jeder Kämpfer, der Rang und Namen hatte.
Die Veranstaltung machte in dreifacher Hinsicht Schule: 1) Sie war die erste Karate-Meisterschaft in den USA, die von nationaler Bedeutung war und somit auch der erste maßgebliche Wendepunkt im amerikanischen Karatesport; 2) Sie war der Meilenstein fuer nachfolgende, groß angelegte Karate-Wettkämpfe von nationalem Kaliber in Amerika; und 3) Sie laeutete, in Bezug auf Techniken, die offizielle Geburt des „Amerikanischen Karate“ ein. Laut J. Pat Burleson, der ebenfalls an dem Ereignis in Chicago teilnahm, war es dieser Wettkampf, in dem das erste Mal Kämpfer damit begannen, Techniken zu kombinieren.“ Vorher hatten Kämpfer im koreanischen Stil ausschließlich Kicks und japanische Stilisten nur Schläge angewandt. Burleson erinnert sich, dass „dies das erste Mal war, daß man diese beiden Stilrichtungen in einem Wettkampf vereinte.“
Der aus Cleveland, Ohio, stammende AlGene Caraulia, ein damals unbekannter Träger des Braunen Gürtels, siegte in der Klasse der Schwarzgurte. Den ersten Platz im Kata nahm Jerry Fastbender ein, während sich Roberta Trias, die damals 14-jährige Tochter von Robert Trias, einen beispiellosen zweiten Platz holte und damit 22 männliche Schwarzgurte hinter sich ließ. Sie war die erste bekannte weibliche Karatekämpferin Amerikas und gleichzeitig die erste, die so erfolgreich gegen Männer antrat. Auch heute noch ist Roberta Trias eine aktive Karatekämpferin.
Trias’ Veranstaltung war die erste von zahlreichen sogenannten Karate-„Weltmeisterschaften“, die in den USA stattfanden. Bis heute wurde diese Bezeichnung dutzende Male in Verbindung mit amerikanischen Turnieren gebraucht – bzw. hauptsächlich missbraucht – und auch in der Gegenwart verwendet man sie trotz der nachvollziehbaren Zweideutigkeit noch immer. Viele Promoter übernahmen diesen so populären Titel, in der Annahme es würden tatsächlich Kämpfer aus aller Welt teilnehmen. Da es für den Karatesport von seiten der Regirung keinerlei Bestimmungen gibt, kann jeder Promoter sein Turnier als Weltmeisterschaft bezeichnen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.
Das folgende Jahr, 1964, war eines der wichtigsten in der Metamorphose des amerikanischen Karatesports. Trias veranstaltete seine Karate-Weltmeisterschaft erneut in Chicago und wieder siegte ein bis dato unbekannter Träger eines Braunen Gürtels. Sein Name war Mike Stone, ein  einfacher Soldat der amerikanischen Armee, stationiert in Fort Chaffee, Arkansas. Stone sollte den Karatesport schon bald wesentlich beeinflussen. 1964 hatte Mike Stone erneut Glück und gewann bei Ed Parkers ersten Internationalen Karate-Meisterschaften den Grand Championtitel. Stone war ein neuer Schwarzer Gürtel, ein Okinawan-Stilist, der während seiner Militärzeit in Amerika Karate trainiert hatte.
Von Anfang an – etwa Mitte der 70er – lockten die Internationalen Meisterschaften mehr Teilnehmer an, als jedes andere Karate-Turnier, das in Amerika abgehalten wurde. 1974 war der Höhepunkt erreicht, als angeblich 6.000 Teilnehmer um die renommierten Titel wetteiferten.
Der Austragungsort von Parkers erstem Turnier war das Long Beach Auditorium. Später zog er in die geräumigere, mit 15.000 Sitzen ausgestattete Long Beach Arena um. Eine ganz besondere Erinnerung an dieses Ereignis stellt die Freundschafts-Trophäe dar, die der Kanadier Dr. Olaf Simon 1968 als Symbol internationaler Freundschaft an Parker überreichte. Die Trophäe, auch bekannt unter dem Namen „Unsterblicher Pokal“, wird jedem Grand Champion der Meisterschaften verliehen. Der Name des jeweiligen Siegers wird in den Pokal eingraviert und er darf die Trophäe solange behalten, bis er seinen Titel wieder verliert.
Die Anziehungskraft der Internationals hat mehrere Ursachen. Ein ganz ausschlaggebender Grund ist die Tatsache, daß an der Westküste, die Gegend, in der das Turnier einmal im Jahr abgehalten wird, mehr Kampfsportler leben, als irgendwo sonst in den USA. In den 60er und den frühen 70er Jahren zog das Ereignis alle namhaften Kämpfer und Stilwettkämpfer der ganzen Nation an, was vermutlich auch darin begruendet war, daß das Black Belt Magazin im ganzen Land gekauft werden konnte.
Ein weiterer Höhepunkt waren die Demonstrationen. Bruce Lee gab z.B. 1964 eine Präsentation bei den Internationalen Wettkämpfen zum Besten, die ausschlaggebend dafür war, daß man sich bei der Wahl des Kato für die Fernsehserie „The Green Hornet“ für ihn entschied. Ein weiterer Grund war die Tatsache, daß sich unter den Zuschauern zahlreiche Hollywood-Berühmtheiten befanden, die dem Turnier zu einem Glanz verhalfen, der anderen Karateveranstaltungen in den USA fehlte.
Ebenfalls 1964 richtete der aus Washington D.C. stammende Jhoon Rhee das erste Mal die amerikanischen Karate-Nationalmeisterschaften aus – eine weitere nationale Veranstaltung, die durchgehend bis zum Jahr 1970 abgehalten wurde. Pat Burleson, einer von Steens Schuelern, holte sich seinen ersten großen Titel. Der Zweitplazierte war Mike Stones Karatetrainer Sgt. Herbert Peters.
Schließlich fand 1964 in Los Angeles eines der außergewöhnlichsten und überraschendsten Ereignisse in der Geschichte des Karate-Wettkampfs statt. Ein Anfänger mit Weißem Guertel schlug alle Gegner und errang höchste Ehrungen beim jährlichen Nisei Week Karate-Wettkampf, eine Veranstaltung, an der vorwiegend Shotokan-Stilisten teilnahmen. Der Promoter Tsutomu Ohshima veranstaltete seine Meisterschaft in nur einer Kategorie – anstatt wie heute übliche in mehreren Gewichtsklassen. Diese einzige Kategorie war für Mitbewerbern aller Ränge und Gewichte zugänglich.
Mit einem kraftvollen und akkuraten Beinschwung und einem umgekehrten Rückschlag schaltete der Träger des Weißen Gürtels alle Gegner aus. Absolut niemand konnte ihn stoppen. Wie der Träger des Weissen Gürtels hieß? Sein Name ist Hayward Nishioka, der zu dieser Zeit amtierender Champion im Judo war! Niemand gelang es jemals, Nishiokas erstaunliche Meisterleistung zu wiederholen.
Die 1962 beginnende Etablierung von Karate-Wettkämpfen im Südwesten der USA, ist hauptsächlich der mühevollen Alleinarbeit des texanischen Karatekas Allen Steen zu verdanken. 1963 lancierte Steen seine berühmten U.S. Karate-Meisterschaften, die zu einem der nennenswertesten Ausscheidungsturniere Amerikas wurden. Interessanterweise war in jenem Jahr der Sieger des Grand Champions Steen selbst. Es war damals üblich, daß der Leiter des Turniers an seiner eigenen Veranstaltung teilnahm.
1965 kam es für Steens Turnier zu einem Wendepunkt, als der Veteran David Moon die erste von drei aufeinanderfolgenden Grand Champions gewann. Der Zweitplazierte war AlGene Caraulia. Die Tatsache, daß dieser anerkannte Meister an dem Wettkampf teilgenommen hatte, festigte das nationale Ansehen des Ereignisses.
1965 erlangte Meister Jhoon Rhee internationales Prestige, als seine Nationalen Meisterschaften als erstes Turnier in der Geschichte des Karatesports in das mit einem Preis ausgezeichnete Fernsehprogramm „Die große Welt des Sports“ aufgenommen und in allen Teilen des Landes ausgestrahlt wurde. Unglücklicherweise stieß ein wildes Match zwischen dem Grand Champion Mike Stone und Walt Worthy, das sich zu einem Blutbad entwickelte, bei den verantwortlichen Fernsehleuten auf blankes Entsetzen. Nur sorgfältig ausgewählte Auszüge wurden gesendet und für die nächsten 9 Jahre wurde der Sport von dem einflußreichen Programm vollkommen ignoriert. (1974 nahm „Die große Welt des Sports“ Allen Steens US-Meisterschaften in Dallas wieder ins Programm und ironischerweise war dies ausgerechnet Mike Stones Überredungskünsten zu verdanken. Heute werden viele der Liga-Meisterschaftskämpfe ausgestrahlt.)

Von besonderem Interesse:

(mit Fotos vieler der hier benannten Sportler wie z.B. Pat Burleson und Jhoon Rhee)

Der erste wahre Star des Karatesports war unbestritten Mike Stone. Er dominierte die Wettkämpfe seit 1963. Als er 1965 seinen Rücktritt bekanntgab, betrug die Dauer seiner aktiven Zeit gerade mal 18 Monate. Obwohl er nur an neun Turnieren teilgenommen hatte, waren diese Veranstaltungen alle grosskalibrige Ereignisse mit hochrangigen Kämpfern. 1965 errang Stone eine „dreifache Karatekrone“: die Internationals in Long Beach, die U.S. Nationals in Washington D.C. und die Weltmeisterschaft in Chicago.
Obwohl Stone behauptet, 89 aufeinanderfolgende Schwarzgurt-Matchs gewonnen zu haben, zeigen die Aufzeichnungen, daß seine Siegesserie durch zwei Niederlagen unterbrochen wurde. Seine erste Niederlage war ein Grand Championkampf. Er musste sie 1964 – in der Mitte seiner Karriere – bei den Westlichen US-Meisterschaften in Salt Lake City einstecken. Er gewann den Schwergewichtstitel, wurde jedoch im Entscheidungskampf um den Grandchampion von Dave Johnson geschlagen. 1970 verlor er in Long Beach, Kalifornien, einen weiteren Kampf gegen Victor Moore. Diese Begegnung war der letzte Kampf in Stones Karriere.
Die Fortsetzung lesen sie im Zweiten Teil in Kuerze