Keine Gürtel oder Uniformen, keine Katas und festgelegte Stände, keine Formalien oder Rituale – einfach nur praktisches Selbstverteidigung, das ist die treffende Beschreibung für einen russischen Kampfstil, der schlicht als „The System“ (Systema) bezeichnet wird.
Die brutale Selbstverteidigung der russischen Ex-Spezialeinheit SPETZNAZ
Seinen Ursprung führt man ins frühe Mittelalter zurück, als die Russen sich unter sich dramatisch verändernden Klimaverhältnissen gegen Eroberer aus Asien, dem Orient und dem Westen Europas zur Wehr setzten mußten. Als die Kommunisten 1917 in einer Revolution die Herrschaft an sich rissen, verschwand diese Kampfkunst in den Schulen von Polizei und Militär. Der Öffentlichkeit wurde es nicht zugänglich gemacht, die Ausübung sogar streng unter Strafe gestellt.
Nach der Öffnung der Osteuropäischen Staaten wurde offensichtlich, daß die Russen und die übrigen Mitgliedsländer des Warschauer Paktes Nachholbedarf in Sachen Karate, Kung Fu, Kickboxen, etc. hatten. Viele hatten jedoch richtig vermutet, daß in den Ausübungsstätten der Spezialeinheiten erfolgreich Selbstverteidigungstechniken unterrichtet wurden. Neben dem KGB war vor allem die Eingreiftruppe „SPETZNAZ“ für ihre Handfertigkeiten im Nahkampf bekannt. Da sich die Ausbildung den Augen der Öffentlichkeit entzog, scheinen die Aussagen der früheren Ausbilder glaubhaft, daß die Verteidigungstechniken nicht nur realistisch, sondern auch extrem brutal sind, und im Ernstfall auch auf rüdeste Weise eingesetzt wurden.
„The System“ orientiert sich nicht anders als z.B. die selbstverteidigungsorientierten Kung-Fu-Stile an der schnellen Erlernbarkeit und unkomplizierten Ausführung der Technik sowie dem Prinzip: wie kann ich den größten Schaden mit einer Technik anrichten (=Effektivität). Man findet kreis- und halbkreisförmige Schlagtechniken, Kicks unterhalb der Gürtellinie, Ellbogentechniken und zahlreiche Take-Down-Sequenzen, z.B. aus dem Wrestling oder Sambo, im Repertoire der russischen Elitefighter. Die Bewegungen basieren auf der Idee des schwebenden Schwerpunkts, wonach man in der Lage sein soll, seinen Torso so zu bewegen, daß man stets die Schulterdrehung bei seinen Techniken einbinden kann, um auf diesem Weg eine größere Energie gegen den Angreifer anzubringen. Generell glaubt man in diesem System nicht an einzelne Techniken, bzw. daran, daß eine Technik nur einen einzigen Zweck zu erfüllen hat, wie z.B. ein Block beim Karate nur als Block verwendet wird. In jeder Kampfsituation entsteht schließlich eine einmalige Situation, die man individuell meistern muß. Das kann man nur, wenn man unkonventionell kämpft, und den Sieg über alles andere stellt.
Entsprechend den Anforderungen einer Eingreiftruppe gehört bei der russischen Art des Selbstschutzes die Fähigkeit dazu, sich gegen mehrere Angreifer und vor allem gegen bewaffnete Aggressoren zur Wehr zu setzen. Gerade dies ist auch der Punkt, in dem das impulsive System interessant wird, das aus jeder Situation heraus eine Antwort sucht. Anders als viele anderen Systeme, wird es nicht theoretisch überbewertet. Jeder Schüler bekommt einen A4-Zettel mit den wichtigsten Punkten in die Hand gedrückt und lernt, sich z.B. gegen einen Messerangriff zu verteidigen. Praktisch wurden die Techniken bereits erprobt, das weiß jeder, der um die Verhältnissen der früheren kommunistischen Länder Kenntnis hat. Man braucht sich keine Angst zu machen, ob das denn alles wirklich im Ernstfall funktiioniert, solange man denn selbst ine einer solchen Lage im Stande ist, sich aus mentaler Sicht zu verteidigen. Doch auch psychologisch wird im „System“ von vornherein eins klargestellt: „Es ist nicht die Waffe, die funktionieren muß, es ist der Mensch.“
In Westeuropa ist das russische Kampfsystem noch völlig unbekannt. Nur in Nordamerika gibt es eine Schule. Der frühere Spetznaz-Ausbilder Vladimir Vasiliev unterrichtet in Ontario, Kanada, eine Gruppe von 70 Menschen, die sich für sein System eingeschrieben haben. Bekannter sind seine drei Videos „Spetznaz,“ „Knife Fighting and Throwing“ und „Knife Defence“ und sein Buch „Russian Combat Manual.“ Sie werden in den kommenden Wochen erstmals im deutschen Fachhandel erhältlich werden, zunächst jedoch nur in englischer Sprache.
Wer sich fragt, warum „The System,“ wenn es so gut ist, in Deutschland noch unbekannt ist, fällt die Anwort leicht: Es ist zu brutal.
Dieser Bericht fand seinen Platz in der KICK Ausgabe 10 / 1996.
Quelle: Stefan Billen.