Bruce Lee’s Jeet Kune Do in Vollendeter Form auf Video

Bruce Lee

Interview mit Walt Missingham

Bruce Lees Jeet Kune Do lebt durch neue Videoproduktion auf. Produzent Walt Missingham enthüllt die Umstände der Produktion: Seit wenigen Monaten befindet sich ein neues Video über Bruce Lee auf dem Markt. 23 Jahre nach dem Tod des Kampfkunstrevolutionärs und Filmschauspielers ist es kaum vorstellbar, daß ein neues Produkt, neue Erkenntnisse aufzeigen kann. Zu groß ist die Enttäuschung der Fans, die über die letzten 20 Jahre so manchen hochgepriesenen, bereits zigmal gesehenen Schrott als sensationelle Neuenthüllungen eingekauft haben.

Linda Lee
Privataufnahmen aus dem Garten der Lees, wo Bruce seinen Freunden Unterricht gab.

Das neue Video der australischen Firma Legacy-Productions stellt eine angenehme, sehr informative Abwechs-lung zu den bestehenden Dokumentationen dar. Es ist eine Lehrfilm über Bruce Lees Kampfstil Jeet Kune Do. Bruce Lee hatte diesen Stil Ende der 60er Jahre entwickelt. Seine Konzepte hat er auf Audiobändern und in Schriftstücken festgehalten. Videoproduzent Walt Missingham und enge Freunde Lees hatten die Idee, diese Audiobänder als Komentar für ein Video zu nehmen. Durch gute Kontakte zu Lees Witwe und früheren Trainingspartnern gelang es, für den visuellen Teil z.T. noch nicht veröffentlichte Privataufnahmen, z.B. beim Training mit Schauspieler James Coburn, zu verwenden und Ansichten von original Trainingsplänen und anderen schriftlichen Aufzeichnungen einzublenden. Ausschnitte aus Interviews mit dem Verstorbenen, seinem Sohn Brandon und seinem Meisterschüler Dan Inosanto runden die Produktion ab, bzw. ergänzen sie dort, wo Erklärungen sinnvoll sind.
Wenn man es nicht besser wüßte, könnte man meinen, Bruce Lee hätte sich das Video angeschaut und danm kommentiert. In einem Interview verrät der Produzent Walt Missingham, wie dieses einmalige Werk zustande gekommen ist.

Bruce Lees Jeet Kune Do

KICK: Wie sind sie zu diesem Projekt gekommen?

Missingham: Das Projekt, das wir abgeschlossen haben, ist eine Sache, die ich bereits seit 20 Jahren machen wollte. Seit gut 25 Jahren betreibe ich Kampfsport und ich habe beruflich seit 15 Jahren mit dem Fernsehen zu tun. Es fing klein an und mittlerweile verknüpfe ich den Sport mit der Videoproduktion hauptberuflich. Meine Liebe zu den Martial Arts langt weit vor Bruce Lee zurück, doch er beeinflußte mich seit den 60ern sehr stark. Als Jugendlicher beeindruckten mich seine Artikel im Black-Belt-Magazin. Sie haben mich in meiner Entwicklung bis heute stark geprägt.

Bruce Lee
Pressefoto aus der frühen Zeit seiner Karriere: Bruce Lee.

Als sich die Gelegenheit bot, dieses Video zusammenzufügen, habe ich mich involviert. Es gibt soviel Schrott über Bruce Lee, daß ich mit meiner Liebe, zu dem was er in seinem Leben erreicht und die Ideen die er präsentiert hat, die Pflicht hatte, sie so darzustellen, wie sie wirklich waren. Bereits vor zehn Jahren habe ich mit den Nachforschungen begonnen. In Verbindung mit einer Geschichte reiste ich 1987 nach Hong Kong um seinen Sohn Brandon zu sehen. Wir haben einiges durchgekrämpelt. Ich habe mich mit vielen Leuten getroffen. Dann kam alles zusammen. Ich bekam das Gefühl, daß wir für dieses Projekt alle Zutaten beisammen hatten. Die Quellen waren da, die richtigen Leute machten mit – und der Geist war da. Das war das wichtigste an der Sache überhaupt, welche dieses unglaubliche Projekt erst ermöglichte. Der Grund für mein Engagement lag darin, daß ich mich einsam in einer Nußschale wiedergefunden habe. Ohne arrogant wirken zu wollen, darf ich sagen, daß ich mich als einmalig qualifiziert für dieses Projekt gesehen habe. Ich hatte den Background in den Martial Arts – wichtiger noch, ich hatte das Wissen um das Jeet Kune Do und ich war Filmemacher. Ich denke, es gibt nur ganz wenige Menschen, die all diese Kriterien erfüllen.

KICK: Sie haben ihren Background im Jeet Kune Do angesprochen. Wie sieht der aus?

Missingham: Es geht zu dem zurück, was ich bereits erwähnte. In den späten 60ern hat mich Bruce Lee in meiner persönlichen Entwicklung beeinflußt. 1983 wurde ich Schüler von Dan Inosanto, mit dem ich seither trainiere. Ich bin der Präsident der Jeet Kune Do Association für Australien und Neuseeland. Seit Beginn der 80er Jahre haben wir diesen Stil hier verbreitet. Ich habe auch fünf Trainingsvideos über Jeet Kune Do gedreht. Drei mit Dan Inosanto und zwei für Larry Hartsell. Mein Engagement ist sehr fundiert.

KICK: Als sie merkten, daß sie bei diesem Projekt nicht nur mit Lees Schülern, sondern – obwohl er tot ist – beinahe mit ihm selbst zusammengearbeitet haben, hat sie dies beeindruckt?

Bauchmuskeln
Lee war der erste Kampfsportler, der Trainingseinheiten aus dem Bodybuilding implementierte.

Missingham: Ja, natürlich. Ich muß mich wiederholen, es ist sehr authentisch. Es steht völlig im Gegensatz zu dem Schrott, der über ihn verbreitet wird. Vieles davon wird von der Martial Art Industrie und den Magazinen einfach auf den Markt geworfen, um schnelles Geld zu machen. Sie sind dabei skrupellos. Ich wollte ein Projekt auf die Beine stellen, das 100 Prozent zuverlässig berichtet. Es ist das einzige Video, das es über das Jeet Kune Do mit Bruce Lee persönlich gibt! Es ist authentisch, weil wir seine eigenen Aufnahmen und Aufzeichnungen benutzt haben. Wir hatten eine Erzählung von ihm auf Band, so daß wir als einzige die Erfahrung weitergeben können, was es heißt, direkt von ihm gelernt zu haben.
Natürlich ist das ein aufregendes und einzigartiges Projekt. Es ist kein Reinfall! Es ist die wahre Sache, das ist das wichtige. Als Produzent war genau das, der entscheidende Punkt für mich. Als ich mich das erste Mal vor ein leeres Blatt Papier setzte, fiel es mir sehr schwer, zu arbeiten, denn ich wußte, die Leute würden nicht nur Bruce Lee sehen, sondern sie würden ihn so sehen, wie ich ihn darstellen würde. Ich hatte Angst, daß ein Fehler von mir, auch den Ruf von Bruce Lee beeinträchtigen könnte. Aber das ist nicht passiert. Es war ein großartiger Job.

KICK: Sie haben den Rohschnitt Dan Inosanto gezeigt. Wie war seine Reaktion?

Missingham: Wir haben den Rohschnitt 40 bis 50 Leuten gezeigt. Einige waren seine Schüler, wie z.B. Dan Inosanto. Ich war sehr aufgeregt. Ich war stolz auf meine Arbeit, doch ich wußte nicht, ob Dan die Sache auch so sah wie ich. Dan war sehr, sehr begeistert. Er sagte berührt: „Es kommt mir vor, als hätte ich gerade mit Bruce trainiert.“ Ich wußte, „right – that’s it,“ der Film war mir gelungen, wie ich es beabsichtigt hatte. Meine Absicht war es, den Film so zu produzieren, daß es einem vorkommt, wie ein Training mit Bruce Lee. Bis ich es Dan zeigte, war ich nicht sicher, ob ich erfolgreich war. An seiner Reak-tion konnte ich deutlich erkennen, daß ich mein Ziel erreicht hatte.

Walt Missingham
Walt Missingham

KICK: Was haben sie von diesem Film gelernt? Gab es etwas, das sie vorher nicht gewußt hatten?

Missingham: Zum einen habe ich die Bestätigung dafür bekommen, daß man ständig dazu lernt, wenn man ehrlich ist. Technisch habe ich vieles über Kicks und Schläge dazugelernt. Tatsächlich habe ich ein Detail über Schlagtraining erfahren, durch daß ich meine Schlagkraft um 25 bis 30 Prozent gesteigert habe. Ich konnte von den Aufnahmen lernen und von seinen handschriftlichen Aufzeichnungen. Es gab da eine Sache, die ich vermißt habe, so daß wir recherchierten. Wir haben die Lösung gefunden, und es hat gepaßt. Daß es mir geholfen hat, heißt jedoch nicht, daß das Video auch anderen helfen muß. Viel-leicht gibt es auch andere interessante Dinge in diesem Video. Man muß es sich anschauen, um es herauszufinden.

KICK: Ist es eine Video, das man sich immer wieder anschauen kann, um ständig etwas Neues daraus zu lernen?

Missingham: Ich habe viele hundert Stunden an diesem Tape gearbeitet. Als Filmproduzent ist man normalerweise froh, wenn die Arbeit vorbei ist. Man schaut sich die Sache hinterher nicht mehr an. Ehrlich, das ist die Wahrheit; ich habe schon sehr viele Filme produziert. Wenn man fertig ist, dann schließt man ab und schaut auf das nächste Projekt. Mit diesem Video ist es anders. Seit ich fertig bin, habe ich es mir mindestens 20 Mal angeschaut. Ich versichere ihnen, das ist sehr ungewöhnlich für einen Produzenten oder Regisseur. Ich sehe es jetzt mehr aus der Perspektive eines Kampfsportlers und sage mir, „Wow, das ist eine Sache, von der man viel lernen kann.“ Man kann es sich immer wieder anschauen. Es ist schön, es zu besitzen. Es ist sehr interessant und darüber hinaus auch unterhaltsam. Die Informationen kommen aus sovielen Richtungen und Quellen, daß man es sich öfters anschauen muß, um alles mitzubekommen. Das beste ist, man schaut es sich einige Male an, absorbiert die Informationen und teilt sie sich in Kapitel auf. So kann man wirklich eine Menge lernen.

Bruce Lee
Bruce Lee

KICK: Was haben sie von Bruce Lee – als Mensch – gelernt, als sie dieses Projekt betreuten?

Missingham: Es war eine Bestätigung dessen, was ich schon wußte. In jedem Feld hat es seit Menschengedenken Individualisten gegeben, die einzigartig waren. Bruce Lees Beitrag für die Martial Arts war einmalig. Er war ohne Zweifel ein außergewöhnlicher Mensch. Ich habe in meinem Leben schon Menschen getroffen, die ähnlich waren wie er oder so gut waren wie er. Ich habe jedoch noch nie einen Sportler getroffen der so perfekt war. Er war besonders talentiert, sowohl menschlich als auch physiologisch. Er war sehr engagiert, weit über das Gewöhnliche hinaus. Er ist ein Beispiel für einen Menschen, der seiner Perfektion verblüffend nah gekommen ist. Man kann ihn mit Nureyev dem Ballettänzer und dem Formel-Eins-Fahrer Nikki Lauda vergleichen. Man bekommt dieses Gefühl nur bei Menschen, die alles geben, um etwas in einem bestimmten Feld zu erreichen. Da ich das Privileg hatte, durch die Arbeit zu diesem Film sehr viel über das JKD zu erfahren, meine ich, sagen zu können, daß Bruce Lee eine einzigartige Person war.

KICK: Das Video beinhaltet einiges Material über Brandon Lee. Was hat Brandon mit dem Jeet Kune Do seines Vaters zu tun?

Missingham: Wir haben sorgfältig darüber nachgedacht und sind zu dem Entschluß gekommen, daß Brandon zwar eine eigenständige Person war, aber er war vor allem der Sohn von Bruce. Er konnte viel über das JKD sagen, weil er ständig damit konfrontiert wurde. Es war richtig, ihn im Film unterzubringen.

KICK: Und wie steht es um Dan Inosanto?

Missingham: Genauso. Bruce hat Dan ausgesucht, um seine Kunst weiterzutragen. Es gab Leute, die das nicht einsehen wollten, aber die waren im Unrecht. Dan ist unser Mann – und das mit Recht. Er ist ein talentierter Kampfsportler mit einem ungeheuren Wissensschatz. Er hat ein Recht, in diesem Film dabei zu sein und darum ist er auch dabei. Mit Bruce, Brandon und Dan haben sie eine ideale Mischung. 90 Prozent sind Bruce Lee, die übrigen 10 Prozent teilen sich Brandon und Dan.

KICK: Warum, denken sie, ist dieses Video das ultimative Produkt über das Jeet Kune Do?

Missingham: Ich denke das, weil es das einzige authentische Video über ihn und das Jeet Kune Do ist. Der Kommentar stammt von Bruce selbst. Wir haben Aufnahmen vom Privattraining, das er gegeben hat, Demos und Aufnahmen seiner original Aufzeichnungen. Aus jedem dieser Punkte könnte man einen eigenen Dokumentarfilm machen. Wenn man alles zusammenfügt, bekommt man darüber hinaus ein einzigartiges Produkt. Was man sieht, ist wie ein Buch auf Video. Es gibt eine Einleitung, in der die Ursprünge von Bruce‘s Kunst erklärt werden. Es gibt ein Kapitel über die technischen Aspekte des Jeet Kune Do, wir haben ein Kapitel über Punching, eines über Kicks, Fußarbeit und Bewegungen, Trainingsmethoden. Wir schließen mit einer Montage der unterschiedlichen Aspekte, die philosophisch hinter dem Jeet Kune Do liegen. Es ist ein komplettes Paket. Technische und körperliche Gesichtspunkte werden behandelt, ebenso die Philosophie und die Konzepte.

KICK: Können sie uns sagen, was Leute, die Bruce Lee nur von seinen Spielfilmen kennen, von diesem Video erwarten können?

Missingham: Wer Bruce Lee im Film sieht, vergißt oft, daß er ein Schauspieler war. Er konnte in jede Rolle schlüpfen, die ihm das Drehbuch abverlangte. Obwohl er in allen Rollen kämpfen mußte, spielte er jedesmal eine andere Person. In unserem Video bekommen sie den wahren Bruce Lee zu sehen, nicht den Schauspieler. Das ist einmalig, denn 99,9 Prozent aller Leute, die Bruce Lee gesehen haben, kennen nur die Personen, die er gespielt hat. Es ist der echte Bruce Lee, der trainiert, erklärt und sein Wissen mit anderen teilt.

KICK: Was ist der wertvollste Teil dieses Videos?

Missingham: Alles ist wichtig daran. Am wichtigsten halte ich die Mitschnitte, in denen er mit anderen Leuten trainiert. Das ist nicht nur selten, sondern gibt Aufschluß darüber, wie er es anderen Leuten beigebracht hat. Es zeigt einen sehr selten offensichtlich gewordenen Teil seiner Persönlichkeit.

Walt Missingham
Aufnahmen zu einer Dokumentation: Missingham (re.) demonstriert Techniken vor der Chinesischen Mauer:

KICK: Gab es große Hürden, die sie bei der Produktion überwinden mußten?

Missingham: Das größte Hindernis war mein Zweifeln an mir selbst, ob ich es schaffen würde, die Angst zu überwinden, diesen Job als gut als möglich zu vollbringen. Nach jeder geschnittenen Szene hielt ich inne und fragte mich: „Gibt es einen besseren Weg? Gibt es einen Weg, wie Bruce die Sache präsentiert hätte?“ Ich ging oft zurück, und veränderte es, so wie ein Bildhauer eine Skulptur ständig weiterformt, bis ich das Produkt vollendet hatte. Der Film ist ehrlich und gibt vieles von Lees Aufrichtigkeit wieder. Das war das Schwierigste, denn ich bin mein größter Kritiker. Bei jedem Film, den ich produziere, überlege ich stets, „habe ich das bestmögliche erreicht?“ Und wenn ich ehrlich bin, heißt die Antwort manchmal „nein.“ Bei diesem Video ist es definitiv ein „ja.“

KICK: Können sie uns abschließend noch ein Statement über das Jeet Kune Do geben?

Missingham: Jeet Kune Do ist für mich ein Weg, sich selbst durch die Martial Arts auszudrücken. Darauf zielte auch Bruce Lee. Wenn die Leute über Jeet Kune Do reden, heißt es meist, „oh, da hat man ein paar Stile gemischt und daraus die besten Sachen zusammengetragen.“ Klar, das ist ein Aspekt von JKD, aber es ist zu einfach. Bruce Lee wollte, daß man seinen Körper zu einem Instrument der Martial Arts formt, in dem man aufnimmt, was sinnvoll ist, usw. Es erstaunt mich, daß mehr als 90 Prozent der Kampfsportler nicht wissen, worauf es beim Jeet Kune Do ankommt. Ich weiß nicht, ob das an der Ignoranz oder Bequemlichkeit der Leute liegt, oder vielleicht an einer Kombination aus beidem. Wenigstens kann man in unserem JKD-Video sehen, was das JKD, das seit Bruce Lees Tod ständig gewachsen ist, erreichen kann. Es ist ein Stil für jederman, obwohl nur wenige von seinen großen Vorteilen profitieren. Vielleicht hilft dieses Video, diese Mißverständnisse aus dem Weg zu räumen.


Mike Chaturantabut

Dieser Bericht fand seinen Platz in der KICK Ausgabe 10 / 1996.
Quelle: Stefan Billen.

Fotos: Archiv Missingham, Estate of Bruce Lee, Phoenix Films International.

Video: Walt Missingham Film Backstage Bruce Lee